„Ist es Kaltherzigkeit von mir und enge Schulmeisterei, daß ich mich immer wieder und immer mehr an die Philologie dieses Elends halte? Ich prüfe wirklich mein Gewissen. Nein; es ist Selbstbewahrung“

Victor Klemperer, LTI

 

Was will die Michmaschine

  • Die Michmaschine wurde gebaut, um auf einen von uns empfunden Mangel zu reagieren: Unser Alltag ist zu einer lästigen Praxis verkommen, die wir zwar mit Methoden des Managements bewältigen können, die uns aber keinen Anlass bietet, etwas anderes darin zu sehen, als das, was eben sein muss. Das ist traurig und da wir nicht stumpf und depressiv auf die Urlaubszeit warten wollen, basteln wir an dieser Maschine, die wir wie ein umgedrehtes Fernrohr auf unseren Alltag richten. Manchmal bringt ein größerer Abstand zu den Dingen, die wir zu kennen glauben, unerwartete Erkenntnisse hervor, und auch wenn es dazu nicht reichen sollte, entstehen beim genauen Hinsehen oft Fragen, wo vorher alles ganz klar erschien. Darum soll es also gehen: Den Anschein der Normalität zu brechen, überall dort, wo Normen wirksam sind, die unsere Umgangsweisen genauso veröden wie die Umgebungen, in denen wir leben. Die Tristesse der Städte, der Gewerbe- und Bürolandschaften und der immergleichen Konsumwelten setzt sich fort als schleichendes Gift in den Produkten, die wir kaufen und in der Sprache, die wir sprechen, vor allem schafft sie ein geistiges Klima, das einer ewigen Fahrt auf der Autobahn gleicht: Es gibt nichts zu tun, trotzdem ist volle Konzentration gefordert. Auch wenn es sich meistens nicht so anfühlt, vergeht dabei Zeit, die wir auch an anderer Stelle nicht zurück bekommen. Die Michmaschine nimmt solche unscheinbaren Momente und Ereignisse und verarbeitet sie zu Anlässen, die Beachtung verdienen. Diese Momente bestimmen mit, was wir denken, was wir meinen zu sein und wie wir uns fühlen, meistens ohne zu wissen, warum wir so sind. Deshalb haben sie Aufmerksamkeit verdient.
  • Beobachtung setzt einen Standpunkt voraus, eine subjektive Perspektive, was bedeutet, mitzubedenken, welcher Teil von uns selbst gerade reagiert, denkt, schreibt, fühlt – und wie sich dieses konfuse “Mich” aktuell und immer wieder neu unter Einfluss (der Medien und Werkzeuge) zusammensetzt. Und wie es in den gerade entstehenden Text einfließt.
  • Gegenstand unserer Beobachtungen kann vieles werden, fast alles. Sobald wir diese Beobachtungen zu Texten verarbeiten, kommt etwas hinzu, das abweicht von der Beobachtung, die wir beschreiben wollen, und dass sich auch nicht mit dem deckt, was als persönliche Meinung in den Text einfließt; es ist der Text selbst, der seine Möglichkeiten und Beschränkungen mitbringt. Das ist keine Frage des sprachlichen Geschicks oder guten Stils, der dient dem Leser und der Eitelkeit der Autoren, hat mit dem Eigengesetz des Mediums aber wenig zu tun. Weder gehört uns die Welt, die wir beobachten, noch die Sprache, die wir benutzen. Vielmehr müssen wir uns bemühen, die Gegenstände des Schreibens und das Schreiben als etwas zu begreifen, dass unsere unscharfen Vorstellungen von uns selbst erst hervorbringt. Eben das zu begreifen, wie wir als Personen entstehen, in Abhängigkeit von den Medien, die wir zu nutzen glauben, die aber tatsächlich mitarbeiten an dem, was wir als Selbstbild von uns haben, ist die sozusagen “medienreflexive” Aufgabe der Michmaschine. In der Regel wird diese Frage nicht gestellt, in der üblichen journalistischen Praxis wird sie, wie in unserem Alltagsempfinden, als beantwortet vorausgesetzt. Die Michmaschine arbeitet an dieser Stelle gegen die Macht der Gewohnheit.
  • Die Michmaschine ist deshalb eine Maschine, weil sie mit unterschiedlichsten Inhalten befüllt werden kann und trotzdem immer ähnliche Formen produziert. Das zu untersuchen, ist einerseits Selbstforschung, bedeutet aber andererseits auch sich nicht ablenken zu lassen von wandelnden schillernden Oberflächen, die Medien/Produkte herzeigen, sondern ihren formativen Charakter, der manipulativ, aufklärend, ideologisch, unehrlich etc. sein kann, zu verstehen und im Selbstversuch darzustellen.
  • So wie Roland Barthes in die “Mythen des Alltags” die Annahme zerstörte, es gäbe eine Sphäre der Profanität, in der gewöhnliche Werbung, Produkte oder Sport eine an sich bedeutungslose Existenz hätten, so scheint es heute eine Aufgabe zu sein, die manisch-inflationäre Produktion von Meinungen einzufangen. Indem wir nicht Wissen zur Grundlage unserer Aussagen machen, sondern die Beobachtung dessen, was wir als subjektive Reaktion auf unsere Wahrnehmungen verstehen: aufwallende Gefühle, Wünsche und ihre Folgen, wie z.B. das Bestreben danach, recht zu haben, die besseren Argumente vorzubringen oder einfach das letzte Wort zu behalten, weil wir schlauer sind oder mehr zu wissen meinen als andere. Indem wir nicht überzeugen wollen, sondern zeigen, entsteht hoffentlich etwas anderes als noch mehr Meinung; im besten Falle werden persönliche Standpunkte sichtbar, die sich anderen nicht zur Übernahme aufdrängen. Die Inflation der Meinungen, mit der wir es heute zu tun haben und die den klassischen Meinungsmedien die Grundlage entzieht, speist sich aus der Annahme, dass Wissen hauptsächlich dafür da ist, um daraus Meinungen zu machen. Dieses Verständnis scheint zur Zeit derart dominant zu sein, dass es schwer fällt, eine Ausnahme davon zu denken. Das bedeutet auch, dass Meinung der vorherrschende Modus der Selbstdarstellung ist, ein Zustand der zwangsläufig ein gesellschaftliches Klima der Rechthaberei und einen erhöhten Anpassungsdruck erzeugt.
  • Die Michmaschine sucht nach Möglichkeiten von diesem Zustand abzuweichen. Ohne konkrete Antworten zu kennen, glauben wir, dass eine Voraussetzung dafür ist, empfindlich gegenüber Worthülsen zu sein und normative Ästhetiken, Denkverbote und vor allem von ganzen Gruppen vertretene Überzeugungen grundsätzlich in Frage zu stellen. Dabei betrachten wir misstrauisch zuallererst unser eigenes zusammengesetztes “Mich” als ein ideologisches Konstrukt, das sich gegen unseren Willen krampfhaft bemüht aus vielfältigen Geräuschen und Missklängen eine einzige, feste Stimme werden zu lassen. Das gilt es zu verhindern und bisher kennen wir nur zwei Mittel, die uns davor schützen können, bei jeder sich bietenden Gelegenheit in die Meinungsfalle zu tappen. Einmal die Erinnerung daran, dass wir nicht recht haben können: Woher sollten wir das denn wissen? Und zweitens: Wir müssen weicher werden.