Vor einigen Wochen führte ich ein ungewöhnliches Telefongespräch mit meiner Mutter. Ungewöhnlich schon deswegen, weil es sonst fast rituell um unwesentliche Dinge des Alltags geht. Kaum verborgen äußerte meine Mutter mir gegenüber ihre Todesangst, vor allem im fortwährenden Bedauern über die fehlende Religiosität ihrer Kinder. Was nämlich zur Folge hätte, dass wir uns dann nach unserem Ableben nicht wiedersähen.
Da die Religiosität meiner Mutter von Ängsten gespeist wird, die das sonst verbreitete Maß wohl deutlich übersteigen und sich von daher ein periodisch eruptiv ausbrechender fundamentalistischer Glaube entwickelt hat, heißt das für sie: im Unterschied zu ihr (falls der Herr nicht noch eine ungesühnte Schuld bestrafen muss) kommen ihre Kinder nicht in den Himmel, sondern leider in die Hölle. Wobei nicht das unweigerliche Leiden der Nachkommen das Problem ist, sondern die ewige Fortsetzung des irdischen Daseins: Einsamkeit, Angst, Depression, Unerlöstheit.
Eine tief verankerte religiöse Grundstimmung war immer der verbleibende Bodensatz der geistigen Existenz meiner Mutter – vor allem dann, wenn nichts mehr half, wenn kein anderer Halt mehr zur Verfügung stand. Die Frage, ob diese obsessive religiöse Neigung letztlich doch eine Stütze war oder eher ein Selbstbetrug zur vermeintlichen Absicherung des Lebens durch göttliches Reglement, durch den sich das existentielle Bedrängtsein noch zuspitzte, kann ich mir nicht beantworten.
Jede erwachsene menschliche Existenz wird sich – mehr oder weniger – seiner Zufälligkeit, seiner Flüchtigkeit, seiner Vergänglichkeit bewusst. Vorher und nachher ist nichts. Einen vorgegebenen Sinn gibt es nicht. Dafür Vergänglichkeit, zu wenig Anteilnahme und Bestätigung durch Andere, oft zunehmende Lebensangst und Todesangst, wenn es schlimm kommt: Wahnsinn oder die Angst davor.
Erlösung tut Not, aber ein solches Transzendenzgefühl (also etwas über den Alltag hinaus Weisendes) wird – jedenfalls in westlichen Gesellschaften – nicht mehr durch göttliche Einkehr befriedet, sondern durch seine Unmöglichkeit verstärkt (E.M. Cioran).
Bei ständiger Veränderung der Lebenswelt, (vermeintlichem) Fortschritt und einem Prozess, den als Säkularisierung zu beschreiben sehr vereinfacht wäre, bleibt die Erlösungssehnsucht, oft in Form heruntergebrochener Korellate: das Bedürfnis nach Geborgenheit, Zugehörigkeit, Abwesenheit von Existenzangst, Krankheit, Einsamkeit, Sinnleere.
Die westliche Moderne preist ihre individuellen Freiheiten, die überall in der Welt große Anziehungskraft ausüben (- und entsprechend Abscheu und Hass mit generieren angesichts des politischen und ökonomischen Agierens des Westens in der Welt). Dem Einzelnen wird Einiges abverlangt, um seinen Leben Sinn, Charakter und Struktur zu geben. Diesen Zwiespalt enthält die Moderne von Anfang an, er ist Teil des Versprechens eines möglichen erfüllten Daseins. Aber die westliche Welt untergräbt zusehends ihre eigenen Grundlagen, scheint lernunfähig, irrational und nicht in der Lage oder willens, ihre gesellschaftlichen, ökologischen, ökonomischen oder politischen Probleme anzugehen oder gar zu lösen. Mir scheint hier ein in “unserer” Hemisphäre enthaltener sozusagen aus der Existenz in den öffentlichen Raum drängender Fundamentalismus systematisch genährt zu werden – während alle auf die sog. islamistische Bedrohung starren. Bedrohlich sind immer die Anderen und verhindern damit durch ihre Stigmatisierung und Stilisierung den fragenden Blick auf die eigene Gesellschaft. Etwa die Sehnsucht nach autoritären Ordnungen, die den scheinbar vergangenen religiösen Traditionen wie dem Fundamentalistischen nicht unähnlich sind.
Unser Sein bleibt durch das Nichts metaphysisch grundiert (Hartmut Lange). Wer es vermag, dem Grundlosen etwas Eigenes entgegenzusetzen, kann vielleicht der tiefen Empfindung des Ausgeliefertseins immer wieder entkommen. – Meine Mutter ist allerdings weder Schriftstellerin noch Popstar, hat mit Madonna oder Iggy Pop (der Leben und Vergehen so unfassbar mitreißend zelebriert) nichts gemein. Sie muss die Angst flach halten, sich in vielleicht gar nicht religiöser Demut üben, und, wenn es gut läuft, was selten der Fall ist, kann sie sich über einen Moment der Unbeschwertheit und Selbstvergessenheit freuen.
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