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Schlagwort: Tod

Derealisationen 12

Was ist daraus geworden? Aus der gefühlten Sicherheit. Die ist weg und auch die illusionären Vorstellungen von Unsterblichkeit, die ich erst bemerkte, als sie sich auflösten. Hatte ich jemals geglaubt, unsterblich zu sein? Natürlich nicht. Aber doch so gelebt und gedacht, ganz unbewußt. Und auch die Idee von Vollendung hat sich verabschiedet, als müsste sich jedes Leben wie ein Kreis schließen, als sei es erst zu Ende, wenn alles getan ist… aber so ist es eben nicht. Es ist vorbei, wenn es vorbei ist, nicht wenn es uns „rund“ erscheint. Das ist so offensichtlich, und doch als echte Erfahrung erst jetzt bei mir angekommen. Dafür mussten Menschen sterben. 

Es ist genug, es reicht jetzt damit. Obwohl sich noch viel angesammelt hat an Text und Notizen. Irgendwann sollte Schluss sein oder eine Wendung eintreten, wieder mehr zum Leben hin. Das war zwar immer mit gemeint, aber vor allem um Trauer und Abschied und so weiter überhaupt als Schmerz richtig begreifen zu können. Das heißt jetzt also, Abschied vom Abschied zu nehmen.

Nur eine Sache bleibt wirklich noch zu tun, nämlich den Übergang hinzubekommen, vom Trauertext zu einem anderen, neuen, der jetzt noch nicht ganz klar ist, der aber herbei geschrieben werden könnte aus dem Wunsch nach Veränderung. So wie der Traurigkeit in den DEREALISATIONEN ein persönliches Denkmal gesetzt wurde, hätte ich jetzt gern VISIONEN von dem noch zu lebenden Leben. Wie es weiter geht. Die Maschine läuft, stockend. 
Es ist ein Anfang mit der Hoffnung auf Besserung, die in diesen letzten Texten steckt. Es lohnt sich nicht, sie wegzuwerfen. 

Letzte Texte 1

Wer einem „friedlich“ Sterbenden zusieht, wartet auf den Moment. Und die Dramaturgie ist dabei oft ähnlich: Die Atemzüge werden tiefer und seltener, die Pausen zwischen ihnen länger, so lang, dass man sich fragt, ob es schon vorbei ist. Aber der letzte Atem ist dann doch eindeutig, weil mit ihm wirklich sichtbar das Leben „ausgehaucht“ wird. Erst dann, tritt eine Veränderung ein, die sofort zu sehen ist: die Leiche, die jetzt erscheint, der Mensch ist bereits Vergangenheit. Die Überreste verändern sich, das kann man gerade in den ersten Minuten eindrücklich sehen, und es wirkt gespenstisch, wie zwischen Leben und Tod, aber wir wissen schon, wie es endet, mit der Zersetzung des Körpers in seine kleinsten Teilchen. Sie werden in dieser Form nicht wieder zusammenkommen. Sind aber noch da. Der Kreislauf geht weiter, ohne den Menschen. Das hat nichts Tröstliches für die, die übrig geblieben sind.

Trost gibt es nicht im Tod, sondern im Leben, er muss vorher gefunden werden, sozusagen vorbereitet werden, am besten mit Sterbenden gemeinsam (und vielleicht noch besser: Bevor sie Sterbende werden).

Letzte Texte 2

Ich erinnere mich vom Fliegen geschrieben zu haben, den Vögeln (DR 5), und den Fischen, die unten herum schweben (Zu den Vielen gehen).

Nun fand ich eine seltsame Entsprechung bei Vilem Flusser. In „Vogelflüge“. 
Aus „Vögel“, dem titelgebenden Text:

Nachdem der Mythos [des Fliegens] aufgehört hat, ein unmöglicher Traum zu sein, wurde er ein unträumbarer Traum, der weiterbesteht. Wenn eine der fundamentalen Thesen des Marxismus lautet, daß verwirklichte Träume tote Träume sind, wird dabei die Dialektik vergessen: Tote Träume bestehen weiter. Es ist klar, wir können fliegen, und wir können „besser“ fliegen, als es Leonardo träumte, doch zugleich ziehen wir Leonardos Traum unserer Realität vor. Es nützt nichts, daß der Flugplatz „Aeroporta Leonardo da Vinci“ (diese Vulgarität ist für die Realität unserer Flüge charakteristisch) heißt.

Von den toten Träumen geriet ich ohne große Umwege zu den Toten selbst und zum unmöglichen Wunsch sie wiederzusehen. Eine Ahnung davon, wie absolut der Verlust ist, schleicht sich schon ein, bevor wir unseren ersten Toten begegnen. Sie liegt im Unmöglichen, das unsere Träume beflügelt.

Flusser schreibt:

Wenn wir den Flug als zu verwirklichenden Wunsch erleben, entmystifizieren wir ihn, ohne uns von dem Mythos zu befreien. Wir können keine unmöglichen Träume mehr haben. Was uns bleibt, ist der unmögliche Wunsch, Unmögliches zu wünschen. Ist dieser Blick apokalyptisch…?

Vielleicht nicht apokalyptisch, aber enttäuschend. Wie so ziemlich jede Realitätsprüfung. Das Verschwinden des Unmöglichen ist absolut und unumkehrbar ein Abschied von der Kindheit, die sich bis ins hohe Lebensalter halten kann. Aber das Überraschende daran ist doch, dass mit der Zunahme unserer Möglichkeiten – hier der Verwirklichung des Menschheitstraums vom Fliegen – die Enttäuschung am Leben zunimmt. Damit ist offensichtlich nicht nur ein kulturhistorischer Vorgang gemeint, er findet seine Entsprechung in jedem persönlichen Leben, das nicht in seinen Anfängen stecken bleibt. Man hatte anderes erwartet. Mehr! Selbst wenn eigentlich alles da ist, was man sich gewünscht hat. Nur das Unmögliche, das in den Träumen lebte, ist durch die ständige Erweiterung der Möglichkeiten nach und nach verschwunden.

 Wer nicht zu früh stirbt, kommt irgendwann an den Punkt, an dem sich die eigenen Kreise, die bis dahin größer und größer wurden, wieder zusammenziehen. Die Möglichkeiten nehmen nicht mehr zu, sie nehmen plötzlich ab. Besonders schmerzhaft sichtbar wird das, wenn Freunde und Verwandte sterben, mit denen man eng verbunden war. Ein Teil des eigenen Lebens verschwindet mit ihnen und wird ersetzt … ja, durch was? … durch Traurigkeit und Erinnerungen? Das ist schwer auszuhalten. (Zu den Vielen gehen)

Das ist nicht alles: Traurigkeit, Erinnerungen und älter werden und damit abnehmend die noch zu verwirklichenden Möglichkeiten. Das muss nicht nur tragisch sein, vielleicht steckt – in der Umkehrung – in der Abnahme der Möglichkeiten ein neuer, tröstlicher Traum. Ein Traum ohne Hoffnung auf zukünftige Erfüllung, aber mit der Garantie nicht mehr vom Leben enttäuscht zu werden. Es wäre schön, im hohen Alten nicht durch und durch desillusioniert zu sein, sondern in neuen Träumen zu leben.

Letzte Texte 3

„Man stirbt, wie man gelebt hat“. Stimmt das? Ängstlich vielleicht. Oder selbstzufrieden. Glücklich sogar? Oder wie ein Idiot, der nicht zu leben verstanden hat und dann also auch nicht kapiert, dass es aus ist?

Dass die Erfahrung des Todes durch das zuvor gelebte Leben mitbestimmt wird, das scheint jedenfalls unabweisbar zu sein.

Der Tod ist eine Tatsache. Es braucht keinen wissenschaftlichen Beweise dafür. Wir wissen es. Aber über das Wissen hinaus, dass wir sterben werden, weil Menschen eben sterben, gibt es außerdem

tausend Weisen, in denen wir unseren eigenen Tod vorausfühlen können und eine dunkle Vorstellung von ihm gewinnen können.
(Paul Ludwig Landsberg: Die Erfahrung des Todes)

In Krankheit, im Schlaf und Ohnmachten oder in Derealisations – und Depersonalisationserlebnissen und vielem mehr. Nur: Nehmen wir es auch wahr? Für die vielen Gelegenheiten, in den Tod vorzufühlen, kommt es doch selten vor. Wer nicht sterben will oder kann, lässt die Ahnung unbeachtet, es braucht schon ein echtes Wollen den Tod im Leben zu spüren. Es macht vielleicht zu große Angst; denn der Wille scheint gefährlich, er könnte das Tor hin zum wirklichen Sterben öffnen. Er schwächt. Wer bringt sich freiwillig in solche Gefahr? Und es geht ja auch anders: Die überzeugendste Weise unseren Tod vorauszufühlen, besteht nicht in dem, was wir am eigenen Leib erfahren können, sondern im Mitfühlen. Immer dann, wenn wir durch den Tod eines anderen tief betroffen sind.

Ein klares Bewusstsein von der Notwendigkeit des Todes wird aber erst möglich durch die Teilhabe, durch die persönliche Liebe, in der diese Erfahrung von Anfang an beschlossen lag. Wir haben mit dem, der da stirbt, einen Bund geschlossen, wir haben zusammen mit ihm ein „wir“ gestiftet.

In diesem „wir“ nun, und gleichsam mitgerissen durch die Eigenart dieses neuen Wesens persönlich akthafter Ordnung, werden wir zu einer erlebten Kenntnis unseres eigenen Sterbenmüssens hingerissen. Wir folgen dem „wir“, das zerbricht, indem wir dies Zerbrechen erleben, bis an die äusserste Grenze des „Jenseits“; ja, einen Augenblick berühren wir gleichsam die Atmosphäre, die aus dem Lande des Todes kommt, gehen wir ein in die äusserste Entfremdung, die die geliebte Person alsbald aus der bekannten Weise des Zusammenhangs mit uns hinwegnimmt.
(Paul Ludwig Landsberg: Die Erfahrung des Todes)

Was hier beschrieben wird, wenn auch etwas kompliziert, ist die höhere Evidenz des eigenen Erlebens, wenn es echter Empathie entspringt, und damit eben nicht nur die eigene, sondern eine geteilte Erfahrung ist. Dieses über sich Hinausgehen und in Verbindung zu sein, ist nun ein Wesen persönlich akthafter Ordnung, anders gesagt: es ist der Prozess des Erkennens, früher oder später das gleiche Erleben zu müssen wie die geliebte sterbende Person. Es gibt keinen anderen Weg zu dieser Erkenntnis zu kommen, keinen wissenschaftlichen und auch keinen religiösen. Sicher weiß man, dass man sterben wird, aber wahr wird es erst, wenn man es miterlebt hat. Und das auch nicht irgendwie oder mit irgendwem, sondern mit einem geliebten Menschen. So befremdlich es erscheinen mag, die Liebe ist nicht nur notwendig für ein gutes Leben, sie macht es auch möglich, dem eigenen Tod zu begegnen, ohne sterben zu müssen. Unter tragischen Umständen zwar, aber gerade im Zerbrechen wird das „wir“ noch einmal besonders schmerzlich erfahren als jene dritte Daseinsweise, neben dem „Ich“ und „Du“. Nur in dieser dritten Lebensweise ist die Vorahnung von Trennung und Verlust gegeben, bis sie unweigerlich irgendwann für das „wir“ real wird. Ohne Liebe können Ich und Du die Wirklichkeit des Todes nicht begreifen. Das macht sie so einzigartig wertvoll für das Leben.

Derealisationen 11

Ich hatte mir versprochen, dran zu bleiben, nur abzuschweifen, wenn es nötig werden würde, also oft, aber eben ausschließlich, um mein vielleicht zu festgefahrenes Denken zu umgehen. Das gelingt nicht so gut, wie ich es mir gewünscht hätte. Aber besser, als zu erwarten war, denn ich wusste nicht, wie es geht. Weiß es noch immer nicht. Ich denke nunmal, wie ich denke, das ist schwer umzubiegen. Und dem Denken folgt Handeln oder das Handeln geht voraus, was sicher nicht selten passiert, aber immer haftet meinen Handlungen etwas an, das wohl Ausdruck meines „Selbst“ ist und das ich beobachten und befragen möchte: Warum mach ich etwas so und nicht anders?

Inzwischen hat sich eine Ahnung eingeschlichen, was zur Selbstbefragung hilfreich ist. Es sind – wenig überraschend – gerade die Abschweifungen. Aber verwirrend sind sie auch und obwohl sie mir den Einstieg erleichtert haben, führen sie nun dazu, dass ich nicht mehr weiter weiß. Inzwischen fällt es mir schwer, mich zu erinnern, worum es mir ging. Warum Derealisationen? Hatte ich damit begonnen, weil ich mir ein bisschen Freiheit verschaffen wollte? Weil ich nicht mehr Ich sein wollte?

Am Anfang war der Tod – meiner Freunde und die anschließende Unaushaltbarkeit der einstürzenden Weltgewissheit. Denn die war nichts anderes gewesen, als die selbstverständliche Voraussetzung am Leben zu sein. Das Leben selbst war bis dahin ziemlich selbstverständlich. Es ergab sich aus dem Alltag. Und aus Erinnerungen an die eigene Geschichte, die angefüllt waren mit Menschen, die fast alle noch lebten. Mir ist – sozusagen theoretisch – nie bewusst geworden, wie sehr das Gefühl der Lebendigkeit am Leben der anderen hängt, also an den Menschen (und Tieren), die das eigene Leben begleiten und erfüllen.

Dann aber, mit dem realen Verlust dieser Menschen, verlieren die Erinnerungen plötzlich an Farbe, werden grau und unscharf und so befremdlich wie ein altes Foto, auf das man schaut und sich sagt: Aha, das war ich also als Kind. Die Verbindung ist gekappt und wird immer weniger wirklich mit dem Tod der Menschen, die die frühere Existenz verbürgten. Das sind natürlich die Eltern und Großeltern, die Geschwister. Und die Freunde, die wir schon als Kinder hatten. Nur ist beim Tod der Freunde die Überraschung darüber, wie real das Sterben ist, noch viel gewaltiger. Auch wenn es vielleicht nicht betroffener macht, als das Sterben der Eltern, steht es doch näher zum eigenen Tod. Die einfache Voraussetzung, am Leben zu sein, ist plötzlich nicht mehr selbstverständlich. 

Wenn ich jetzt versuche, klar zu sehen, was die tiefe Erschütterung über den Tod der Freunde verursachte, dann ist es nicht nur der Verlust ihres Lebens, der so traurig machte. Vielleicht ist dieser mitleidige, empathische Anteil der Trauer, bei dem es wirklich darum geht, die Toten zu bedauern, weil sie ihr Leben verloren haben, sogar ganz unbedeutend im Gegensatz zu dem Trauergefühl, das wir uns selber schenken, ob des großen Verlustes, den wir erleiden mussten. Aber worin bestand der Verlust? Wohl darin, dass es die gemeinsame Welt, – selbst wenn sie fast nur noch aus Erinnerungen bestand – nun plötzlich nicht mehr geben soll. Mit dem Tod verschwinden nicht nur reale Menschen aus unserem Leben, sondern auch die Möglichkeiten fast schon fiktionale Vergangenheiten durch geteilte Erinnerungen wiederaufleben zu lassen. Mit dem Verlust dieser Möglichkeiten wird ein Teil der eigenen Geschichte unwiderbringlich irreal. Zwar lässt sich alles noch erzählen wie zuvor, aber durch den Mangel an Bestätigung gehört es jetzt zum Reich der Fiktionen, in dem der Realitätsbezug nur noch schwach empfunden wird. Und er wird schwächer, je älter man wird. Mit jeder für uns bedeutenden Person, die wir verlieren, nimmt also auch unsere eigene Bindung an die Welt ab. Unser eigenes Leben beginnt sich zu verflüchtigen, der Tod rückt näher.

Die Toten sind tot, sie benötigen unsere Empathie nicht mehr, das wissen wir. Aber wir, die wir trauern, können jeden Trost, den wir uns geben können, gebrauchen, um weiterzuleben.
Manche Trauer fühlt sich wie eine tödliche Krankheit an. Dass es danach weitergehen soll wie eh und je, erscheint unvorstellbar. Und obwohl die Trauer ihr Objekt natürlich in dem geliebten Toten hat, handelt es sich dabei um ein gespaltenes Objekt, man könnte sagen, es gibt ein inneres und ein äußeres Objekt, von dem uns nur das letztere auf Dauer erhalten bleibt. Dieses innere Objekt der Trauer hat mit der verstorbenen Person (also dem äußeren Objekt) nur insofern zu tun, als dass es die psychische Repräsentation dessen ist, was diese Person für uns bedeutete und was wir nach ihrem Tod schmerzhaft vermissen. 

Ein Mensch stirbt, er löst sich in seine Bestandteile auf und verschwindet, bis er real nicht mehr existent ist. Zurück bleibt ein Negativ seiner Existenz, das sich als Schatten seiner Abwesenheit bei den Menschen bemerkbar macht, die ihn vermissen. „Er fehlt“, heißt es dann und so ist es auch. An diesem Fehlen manifestiert sich die Bedeutung eines Lebens ebenso, wie in allem, was der Verstorbene an positiven Leistungen der Welt hinterlassen hat.

Ich bin mir nicht sicher, ob es eine eher persönliche Erfahrung ist oder ein allgemeiner Aspekt jeder Trauer, jedenfalls mein Verlust bestand auch darin, die Illusion verloren zu haben, dass wir noch Zeit hätten, wieder ein gemeinsames Leben führen zu können, das wir dann gestalten und aktiv führen würden, was auch meinte, die verlorene Zeit, die wir nicht gemeinsam verbracht hatten, wieder aufzuholen. Erst als ältere Männer vielleicht, die im Garten sitzend ihre Erinnerungen austauschen. Dieses Bild war für mich immer tröstlich. Aber wie es mit Illusionen so ist, sie werden von der Realität überholt, und wenn sie so sentimental sind wie meine, erscheinen sie nachträglich ziemlich lächerlich.

Mit ein bisschen Abstand (vom Anfang der Derealisationen) komme ich auch auf den Gedanken, es könnte sich um eine Angeberei, um eine aufgeblasene Rationalisierung meiner Traurigkeit handeln. Derealisationen? Ist das nicht genau das Gegenteil von „Trauerarbeit“? Die, wenn ich es richtig verstehe, doch eher eine Selbstforschung zum Zweck der emotionalen Stabilisierung des Trauernden sein soll. Während meine Idee darin bestand, von mir abzulassen, meine Identität und was ich dafür halten konnte, unsicher werden zu lassen und mir die Möglichkeit zu geben, jeder und alles zu sein, nur nicht ich. Das ist ziemlich verstiegen und wohl auch anmaßend. Aber für mich viel näherliegend, als ein ICH zu festigen, dass ich gerade nicht sein wollte. 

Ich erinnere mich an viele Reisen, an viele Landschaften, Städte und Dörfer und an immer die gleiche Frage: Wie ist es wohl hier zu leben? Was wäre, wenn ich hier aufgewachsen wäre usw? Es gibt keine wirkliche Antwort darauf, nur Fantasien und Einbildungen, die aber so groß werden können, dass sie zu einem anderen Leben führen. Nicht an diese Veränderbarkeit des Selbst glauben zu können, Angst davor zu haben und letztlich alles zu tun, um Veränderung zu verhindern, ist ein Symptom einer Krankheit, die zum frühzeitigen Tode führt – einem Tod, mit dem man noch viele Jahre leben kann.

Mir die Welt fremd werden zu lassen, sollte heißen, um den Tod zu kreisen. Jeden Gedanken, jedes Thema vor die Absurdität zu stellen, dass sich alles verändert und alles verschwindet. Das ist natürlich keine originelle Idee, Philosophie, Literatur, Kunst, irgendwie fast alles, was gedanklich über reine Funktionalität hinausgeht, führt letztlich zu diesem Punkt. Es ist aber, und darauf kommt es an, eine ganz persönliche Frage, wie nah man den Tod schon im Leben an sich heranlässt. Da sind Philosophie und Lesen oft eher Mittel, um sich eigene Gedanken vom Leib zu halten. Das macht es so schwierig, zu begreifen; obwohl Texte und Bilder uns den Tod zeigen, wie er sein könnte, sind sie zugleich eine ästhetische Form der Distanzierung. 

Wer schon mal Totenmasken gesehen hat, kennt vielleicht die Indifferenz des Gefühls, das ihr merkwürdiges Aussehen hinterlassen kann: Sie wirken menschlich und absolut individuell, aber eigentlich wie aus einer anderen Welt. Sie sind eher unheimlich, als berührend. An ihnen zeigt sich der Tod in seiner Fremdheit, nicht als das, was uns geschehen wird, sondern was Anderen zugestoßen ist. 
Vielleicht ist das gut so und man sollte es dabei belassen. Wie ich es allerdings erfahren habe, kann der Tod der Anderen das eigene Leben so weit in den Schatten stellen, dass es entweder in Stumpfheit oder in dauernder Traurigkeit versinkt. Das einfach geschehen zu lassen, wäre idiotisch, da erscheint der Versuch ein anderer zu werden gleich viel vernünftiger. Also weiter.

Derealisationen 10

Um die Tiere habe ich getrauert, als wären sie mir wichtig gewesen. Waren sie ja auch, nur wußte ich es vorher nicht, sie lebten ja noch. Und ich war ein Kind. Es ging von Tag zu Tag, immer ein bisschen älter, auch davon bekam ich lange nichts mit. Sie sind natürlich alle gestorben. Bis auf einen, der flog durch‘s offene Fenster und war weg. Aber auch der ist selbstverständlich schon lange tot, ich weiß nur nicht, wie er gestorben ist. Das war bei den anderen Tieren nicht so, da trat der Tod ein oder wurde herbeigeführt, und irgendwie waren wir immer daran beteiligt.

Die Meerschweinchen gingen alle ziemlich schnell ein, das sind keine zähen Biester, die letzten beiden frass der Nachbarshund. Die Katzen wurden eingeschläfert. Die Fische trieben mit dem Bauch nach oben, ich wechselte das Wasser zu oft, das vertrugen sie nicht. Einer hielt sich noch eine Weile. Ein „Black Guppy“, die sehen von Natur aus, als wären sie in Trauer. Ihre Schwanzflosse ist ein schwarzer Schleier. Manchmal fressen sie ihre Artgenossen auf. Keine anderen Fische, Schwarze Guppies fressen ausschließlich ihre Verwandten. 

Der Schäferhund des Nachbarn wurde vergiftet (nicht von uns). Unsere erste Katze vom Bauer erschossen, weil sie auf seinen Feldern herumlief. Sie hatte ein schönes getigertes Fell, wahrscheinlich hat er ihren Kadaver liegen lassen. Wir haben sie nicht gefunden. Obwohl wir gesucht haben, tagelang, meine Mutter, mein Bruder und ich.

Ein paar Wasserschildkröten wurden im Gartenteich ausgesetzt, da vermehrten sie sich sogar noch. Ich denke, im Winter war es dann vorbei. Eine geriet versehentlich in die Kanalisation. Wer weiß.

Eine kleine Ente, ein biologisches Schulexperiment, wurde im Schlaf zerdrückt. Und somit der Beweis erbracht, dass Babyenten nicht auf junge, pubertierende Männer geprägt werden sollten. Das Tier hieß „Arnold“, aber auch das hat nicht geholfen.

Rih starb in den Armen von Old Shatterhand, alter Freund, bester Gefährte, die Geschichte zieht bis heute. Ein Pferd, ja, aber absolut keine Mädchengeschichte – denen sterben doch nicht die schönsten, treuesten Pferde weg. Oder doch?

Jack London, Wolfsblut… schrecklich. 

Und mein Affe, 10 cm groß, mein ständiger Hosentaschenbegleiter, bis er irgendwo im Museum für Kunst und Gewerbe unbemerkt herausfiel. Der Verlust wurde im Museumsshop durch einen schönen, kleinen Holzmatrosen ersetzt, sonst hätte ich das Gebäude wohl nie verlassen. Ein Matrose? Ein Mensch! Wie sollte ich den lieben? Ich nahm es ihm zwar nicht persönlich übel, aber er war wie ein rot-weiß geringeltes Ausrufezeichen hinter dem von mir (versehentlich) begangenem Verbrechen – ich hatte meinen kleinen Affen in diesem riesigen Museum ausgesetzt. Da würde er nie wieder herausfinden, bis er entdeckt würde, aber natürlich nicht von mir. Das verfolgte mich einige Zeit, und auch die Frage, ob ich alles getan hatte, ihn zu retten. Ich war ja sofort in Tränen aufgelöst gewesen und innerlich völlig zusammengebrochen, gar nicht in der Lage, richtig zu suchen, obwohl ich wie rasend zurück in die Ausstellungsräume schoss. Ich kam nicht weit. Ein Wärter stoppte mich wie ein fliehendes Tier mit ausgebreiteten Armen und trieb mich dem Ausgang zu. Doch bei allem, und das ist bis heute hängengeblieben, hatte ich das Gefühl der totalen Hoffnungslosigkeit; ich wusste es gibt kein Zurück – vom ersten Moment an, als ich an die Hosentasche griff, wo ich den Affen mit dem Kopf hatte rausschauen lassen, und nichts spürte, weil da nichts mehr war.

Das ist Geschichte, keine große natürlich. Aber unvergessen. Und ich bin nicht allein, es ist Familiengeschichte, jeder von uns erinnert – auf eigene Art – ein bisschen davon und hat anderes vergessen. Gesprochen wird darüber kaum. Vielleicht ist es zu lange her. Und sie sind ja alle tot.

Derealisationen 8

Ich weiß nicht mehr wo es stand, aber Nietzsche hat mal geschrieben, dass wir unserer Kindheit, wenn wir erwachsen sind, nur als Trauernde begegnen können. Damals, als ich es las, dachte ich, es kommt darauf an, wie es so gewesen war in der Kindheit. Man könnte ja auch froh sein, dass es vorbei ist.
Heute vermute ich, er lag ganz richtig. Ich hatte den Gedanken nur halb begriffen, nämlich in dem Sinne, dass die Trauer sich darauf bezog, nicht mehr Kind zu sein und also nie wieder diesen glücklichen Zustand erleben zu können. Das ist die eine Sache, die andere ist noch viel trauriger und war mir deshalb damals vielleicht nicht in den Kopf gekommen: Eine furchtbare Kindheit gehabt zu haben, kann den Erwachsenen im Rückblick erst recht traurig machen.

 Wahrscheinlich gibt es das Gefühl ziemlich oft, betrogen worden zu sein um die kindliche Unbeschwertheit. Hatte man als Kind mehr Glück, weiß man als Erwachsener, dass diese Unbeschwertheit später auf dem natürlichen Weg der Ernüchterung verschwindet.
Und es gibt eine weitere Ursache für diese Trauer, denn selbst eine schreckliche Kindheit war nicht nur schrecklich. Das liegt am Kind, das aus allem das Beste macht. Selbst aus den größten Katastrophen holt es noch das heraus, was erträglich und lebenswert ist. Hätten Kinder diese natürliche Fähigkeit nicht, würden die meisten ihre Eltern nicht lieben. 

Dann ist es also so: Erwachsene trauern auf jeden Fall ihrer Kindheit nach. So oder so. Mehr oder weniger – das ist auch Typ abhängig.

Als ich neulich an eine bestimmte Phase meiner Kindheit dachte, ich war drei Jahre alt und wir lebten auf dem Land, fiel mir eine traurige Begebenheit ein. Ich spürte plötzlich wieder die Traurigkeit von damals, die ich nur in den Griff bekam, indem ich die Erinnerungen fallen ließ und mich dazu brachte, an etwas anderes zu denken.
Später kam ich aber darauf zurück, weil es mich etwas erschrocken hatte, und ich genauer wissen wollte, was mich eigentlich so verunsichert hatte. Erinnert hatte ich mich an unsere Katze Mieke, die vom Nachbarn, einem Bauer, getötet worden war. Es gab keinen guten Grund dafür, natürlich nicht, aber er hatte uns gewarnt, es zu tun, falls die Katze wieder auf seinem Grundstück herumliefe. Und er hat es dann getan, wie sollten wir es verhindern, Katzen gehen ihre eigenen Wege. Als Jäger und Hundeliebhaber hielt er die Katze wahrscheinlich für schlecht erzogen, er hatte uns ja gewarnt.

Als ich also daran dachte, war ich erstaunt, wie frisch die Trauer war. Und im nächsten Moment hätte ich heulen können, aber wie gesagt, ich würgte die traurigen Erinnerungen ab. Und saß dann da mit dem seltsamen Gefühl, eine Trauer zu empfinden, die ich damals nicht empfunden hatte. Obwohl ich natürlich wahnsinnig traurig gewesen war und viel geheult hatte. Ich meine mich zu erinnern, dass mich damals vor allem der Verlust erschütterte, dass vorweggenommene Gefühl, wie sehr sie mir fehlen würde. Das ging natürlich bald vorüber. Und wir haben sie auch nicht tot gesehen, ihren Kadaver nicht gefunden, sie war einfach weg. Also stellte ich mir vor, sie sei irgendwo im Wald, und das war dann wirklicher für mich, als ihr tatsächlicher Tod. So geht das, so ist es auszuhalten, wenn man Kind ist.

Heute geht das nicht mehr, der Tod ist die Realität, die geblieben ist. Und die Unbegreiflichkeit der Tat. Wieso hat er das getan? Bestimmt hab ich das damals meine Mutter gefragt und selbstverständlich keine Antwort bekommen, die irgendwas erklärt hätte. Die Bosheit ist ein schwer zu erklärendes psychologisches Phänomen, richtig schlüssig erscheint sie nie.

Die Heftigkeit dieser alten, aber frischen Trauer überrumpelte mich, also versuchte ich mir zu erklären, wie sie hatte so lange überleben können. Und kam auf den Gedanken einer sozusagen nachholenden Trauer, die das frühere Empfinden vollständiger macht, also die Trauer um jene Aspekte erweitert, die damals noch nicht zugänglich waren. Denn was ich deutlich spürte, war eine Traurigkeit, die den Täter dieses Mal mit einbezog. Nicht das er mir leid tat, es ging um das „erwachsene“ Wissen, dass solche Taten menschlich sind. Während es für mich damals ein monströser und unbegreiflicher Einzelfall war, der mir zudem gar nicht ganz klar wurde, weil meine kindliche Vorstellungskraft nicht ausreichte, mir auszumalen, wie jemand ein Gewehr anlegt – im Spiel machte ich das oft -, ein Lebewesen ins Visier nimmt und wirklich abdrückt. Tötet.

Derealisationen (4)

Eine ziemlich zwecklose Grübelei. Wenn man selbst kein Vater ist (siehe DR3). Also, dachte ich weiter, es gibt vielleicht doch einen Unterschied; die „ontologische Angst“ (siehe DR 2) könnte möglicherweise nicht auf den Tod gerichtet sein, wie die Todesangst, sondern auf das Leben. Sie wäre dann die Angst davor, nicht leben zu können. Oder noch praktischer: Ein verfehltes Leben zu führen, eines, dass man nie gewollt hat. Was ja mindestens so traurig ist wie der Tod. Aber hoffentlich nicht ganz so häufig vorkommt.

So ähnlich – das fällt mir gerade ein – wird von „ontologischer Sicherheit“ gesprochen, also in diesem Fall vom Gegenteil: der „ontologischen Unsicherheit“.

Ontologische Sicherheit (englisch ontological security), auch Seinsgewissheit, ist in der Soziologie nach Anthony Giddens das Vertrauen, das die meisten Menschen in die Kontinuität ihrer Identität und die Konstanz der sie umgebenden sozialen und materiellen Handlungsumwelt haben.[1] Ihr Gegenteil wird ontologische Unsicherheit genannt.
(Wikipedia)

Das ist ziemlich genau das, womit sich meine kleinen „Derealisationen“ hier beschäftigen sollen. Verunsicherungen der Seinsgewissheit. Durch Schock oder irgendwelche drastischen Einbrüche in die „Kontinuität“ des eigenen Dahinlebens. In der Regel wird man der Möglichkeit des Nichtseins ja nur gewahr, durch Todesfälle oder andere existenzielle Schrecklichkeiten. Krankheiten, Unfälle, Verstümmelungen, alles, was man nicht will.
Ob es ein Leben in ontologischer Unsicherheit geben kann, ohne ständig von einem existenziellen Schock in den nächsten zu fallen, und ob es überhaupt wünschenswert ist, den Tod nicht dauernd zu vergessen, ist die Frage, die mich angestoßen hat, mit diesen bröckeligen, manchmal wirren, jedenfalls kurzen Texten eine laienhafte, subjektive Forschung zu beginnen. Eine Forschung, mit der ich meine persönlichen Gewissheiten in Frage stellen möchte. Dafür müsste ich allerdings erstmal durchschauen, welche das sind; welche Überzeugungen lassen mich so leben, wie ich es tue? ( Ha, Abspann … Cliffhanger … demnächst dann neue Grübeleien in Folge 5)

Derealisationen (1)

Ich dachte darüber nach, was sich eigentlich verändert hatte. Jedenfalls gab ich mich ganz dem Alltag hin – bloß nicht so oft an meine toten Freunde denken – und war dabei umgeben von den vielen kleinen Illusionen, die sich abmühen, das echte Sterben symbolisch zu überbieten: Filme, Spiele, Serien, schöne Schuhe und vieles andere, was sich kaufen lässt, Alkohol, Reisen und so weiter. Und nicht Nachdenken. Trotzdem lief alles weiter wie bisher.
Das war wohl eine Sackgasse.

Besser wäre es vielleicht, zwar einfach weiterzumachen, aber mit einem kleinen „Spin“, der das Selbstgespräch (über das irgendwie zu lebende Leben) von innen nach außen dreht. Wie soll das gehen? Für mich: Erstmal beginnend mit kleinen Notizen (Derealisationen), die nichts klären, sondern mit dem fahrigen Gedankenstrom in die eine, dann in die andere Richtung treiben.

Vielleicht hilft ein bisschen Animismus – „Der Animismus stehe in Beziehung zum Traumerleben, in dem die Grenzen des individuellen Bewusstseins gegenüber der Außenwelt aufgehoben seien und das Gefühl einer ursprünglichen Einheit und mystischen Verbundenheit, ja sogar einer Harmonie zwischen Psyche und Kosmos bestehe.“ (Wikipedia)

Seit kurzem sehe ich mich selbst auf der Zielgerade. Ohne Ziel natürlich. Ob das depressiv oder hellsichtig ist, wird sich ja bald zeigen. Die Zukunft schrumpft Tag für Tag. Was übrig bleibt, sollte möglichst nicht vertan werden. Wie verschwende ich die knappe Zeit am besten, so dass ich nicht ständig das Gefühl habe, es zu versauen. Verschwendung? Ja, was sonst, aber irgendwie auf höherem Niveau.

Das geht sicher nicht einfach so. Dem steht der Egomanismus (Ggs. von Animismus) entgegen. Schritt 1 zur Linderung: sich selbst fremd werden. Derealisieren.

„Derealisation (oder präziser Derealisationserleben) bezeichnet eine zeitweilige oder dauerhafte abnorme oder verfremdete Wahrnehmung der Umwelt (etwa von Um­gebung, Per­sonen und Gegenstän­den). Die Umwelt scheint dabei häufig als Ganzes plötzlich unvertraut, auch wenn jedes Detail problemlos wiedererkannt und eingeordnet werden kann. Derealisation steht in enger Beziehung zum Depersonalisationserleben, bei dem die eigene Person als fremd empfunden wird.“ (Wikipedia)

Zu den Vielen gehen (lat. „ad plures ire“ für sterben)

Als Kind war ich begeistert von Flugzeugen. Ich fand die Dinger schön und das Abenteuer reizte mich. Die Technik hat mich nie interessiert. Später bekam ich dann Angst vorm Fliegen. Alle Flugzeuge, die ich je betreten habe, waren ziemlich hässlich, jedenfalls wenn man genauer hinsah: Weiße Rümpfe mit bunten Streifen und Schmutzschlieren und Rost, von den schäbigen Kabinenausstattungen ganz zu schweigen, Schalensitze aus Plastik, überall nur Kunststoff. Sie hatten natürlich nicht die geringste Ähnlichkeit mit den fliegenden Silberpfeilen aus der Pionierzeit der Luftfahrt, in die ich mich damals lesend hinein fantasierte. Beeindruckt von den vorsintflutlichen Maschinen und fasziniert von den Piloten, die auf verblichenen Fotos in seltsamen Hosen, schicken Jacken und Lederkappen neben ihren Fluggeräten posierten, hatte ich mir das Fliegen immer wie eine persönliche Heldentat vorgestellt.
Schon vor meinem ersten Flug, ich war so 10 Jahre alt und mit Papa und meinem Bruder auf dem Weg nach Italien, kamen mir erste Zweifel. Nichts deutete daraufhin, dass ein Abenteuer bevorstand, die anderen Leute am Check-In freuten sich nicht, sie hatten auch keine Angst, sie waren einfach an das Fliegen gewöhnt. Auf dem Flughafen in Neapel war es – obwohl ich die Alpen und sonnige Wolkengebirge von oben gesehen hatte – dann vorbei. Nicht, dass es mir damals klar gewesen wäre, aber meine Geschichte der Luftfahrt endete bereits nach diesem einen Flug. Noch am selben Tag stand ich im Hafen von Neapel und staunte über die kleinen Fischerboote und fand die Fischer ganz toll, die ruhig ihre Netze flickten, wo sie doch gerade draußen auf dem Meer ihr Leben riskiert hatten. Ich wollte dann Taucher werden. Unten herum schweben bei den Fischen, und las die Bücher von Jacques Cousteau und sammelte Klebebildchen für das Hans-Hass-Album “Vorstoß in die Tiefe”. Das Sammelalbum und die Bilder dafür wurden an Esso-Tankstellen verkauft, die zum Ölkonzern ExxonMobile gehörten. Vielleicht war der Graben zwischen Umweltschützern und Ölkonzernen damals noch nicht so tief, heute ist Exxon vor allem bekannt für die katastrophalsten Tankerunglücke, die die Welt gesehen hat.
Und Hans Hass ist tot (16. Juni 2013).

“Der Traum vom Fliegen” ist, glaube ich, immer so eine Kindersache gewesen. Solange er nicht wahr geworden war, haben ihn manche der großen Jungs und Mädchen weiter geträumt. Das ist natürlich vorbei. Wenn die Industrie etwas gründlich zerstört hat, ist es – neben der Natur – die Möglichkeit vom Unmöglichen zu träumen. Sie macht ja früher oder später alles möglich. Und zwar für jeden von uns.
Nebenbei wurde ihr alles geopfert, was wirklich wertvoll ist: Menschen, Landschaften, Dörfer und Städte, das Meer und vor allem das, was man vielleicht das “Soziale” nennen kann: die nichtökonomischen Beziehungen, die Gesellschaft erst erträglich machen.

Ob es früher besser war? Das interessiert mich so wenig wie Flugzeugtechnik. Jetzt jedenfalls ist es nicht gut und nach der Zersetzung der natürlichen Lebensgrundlagen verbreitet sich vor allem Angst. Keine kindliche Angst vor Monstern, eine erwachsene, die sich überall einschleichen und alles besetzen kann und die zum eigentlichen Lebensgefühl wird, ohne ihre Ursachen zu verraten.
Jeder hat eine Therapie nötig. Und die Psychoindustrie hält für jede Angst passende Angebote bereit: Flugangst kann man selbstverständlich auch therapieren.

Bei mir ist die Flugangst mit den Jahren einfach so verschwunden, wie auch meine kindliche Leidenschaft für’s Fliegen verschwunden ist. “Verschwunden” trifft nicht ganz zu, sie wurde ersetzt: Für die Angst vor dem Sterben brauche ich heute keine Flugzeuge mehr. Sie kommt jetzt zu mir durch den Tod der Menschen, die ich geliebt habe. Sie beginnen langsam auszusterben.
Auch der Wunsch zu fliegen, ist nicht einfach verschwunden. So wie ich damals davon geträumt habe, wirklich im Schlaf geträumt habe, abzuheben, zu schweben und höher zu steigen und mit einem unbeschreiblich aufregenden Gefühl über meine Stadt und immer weiter zu fliegen, so träume ich heute davon, meine Toten wiederzutreffen. Nichts wünsche ich mir mehr und nichts ist “kindischer”, also unmöglicher, als das.
Noch ist keine Industrie in Sicht, die diesen brennenden Wunsch erfüllen könnte.  Es bleibt uns nur selbst zu den Toten zu gehen, dorthin, wo sie mit Sicherheit nicht sind, wo sie sich aber finden lassen, in den Träumen und Wünschen, die eben nicht von einer Realität besänftigt werden, die öde und fertig industrialisiert ist. Die Toten sind da, wo wir sie haben wollen. Mit einer Ausnahme: Sie sind nicht mehr unter uns Lebenden.
Diese eine Ausnahme, die nicht irgendeine, sondern die entscheidende Ausnahme ist, muss man lernen auszuhalten. Irgendwie. Was es bedeutet, damit nicht zurecht zu kommen, kann man an den vielen Zynikern sehen, die das Leben selbst nicht zu schätzen wissen, weil es zu schmerzhaft ist. Zynisch ist es, alles Lebenswerte zu entwerten, weil es sterben wird.

Wer nicht zu früh stirbt, kommt irgendwann an den Punkt, an dem sich die eigenen Kreise, die bis dahin größer und größer wurden, wieder zusammenziehen. Die Möglichkeiten nehmen nicht mehr zu, sie nehmen plötzlich ab. Besonders schmerzhaft sichtbar wird das, wenn Freunde und Verwandte sterben, mit denen man eng verbunden war. Ein Teil des eigenen Lebens verschwindet mit ihnen und wird ersetzt … ja, durch was? … durch Traurigkeit und Erinnerungen? Das ist schwer auszuhalten.
Es ist schon keine geringe Anstrengung, die Toten nicht dafür zu verachten, dass sie gestorben sind. Dafür, dass sie uns zurücklassen mit Schmerzen, die sie uns als Lebende nicht zufügen konnten. Die Toten machen das eigene Leben schwerer und schwerer. Davor keine Angst zu haben, ist ja fast nicht möglich. Für diejenigen, die nicht vergessen wollen, gibt es keine andere Möglichkeit, als das zu ertragen.

 

Für Stefan und Bakri.

Post Mortem Politics IV

Wie gern hätte er noch seinen Freund Viktor Orban (Kohl über Orban) an seinem Grab gewusst. Immerhin hatte dieser ihn im April 2016 in Oggersheim besucht. Kohl hatte im Vorwort zur ungarischen Ausgabe seines Buches “Aus Sorge um Europa” deutlich die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung 2015 kritisiert. ”Kulturelle und sicherheitspolitische Interessen” sowie der christlich-jüdische Glauben seien in Gefahr. Weitere “Verunsicherungen bei den Menschen” dürften nicht stattfinden: “Es geht um unsere Existenz”. – Aber nein: Helmut Kohl war ein großer Europäer. So heißt es seit Tagen überall in der politischen Berichterstattung. Wobei es sich hier wohl weniger um Kohl-Blasphemie handelt, als um die Eingemeindung des Verstorbenen in das große WIR, d.h. Grenzen dicht, Austeritätspolitik und grenzenloses Wachstum statt irgendeiner Änderung des politischen Handelns.

http://www.tagesspiegel.de/politik/helmut-kohl-loesung-der-fluechtlingskrise-liegt-nicht-in-europa/13456870.html

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Todesangst und Metaphysik

Vor einigen Wochen führte ich ein ungewöhnliches Telefongespräch mit meiner Mutter. Ungewöhnlich schon deswegen, weil es sonst fast rituell um unwesentliche Dinge des Alltags geht. Kaum verborgen äußerte meine Mutter mir gegenüber ihre Todesangst, vor allem im fortwährenden Bedauern über die fehlende Religiosität ihrer Kinder. Was nämlich zur Folge hätte, dass wir uns dann nach unserem Ableben nicht wiedersähen.

Da die Religiosität meiner Mutter von Ängsten gespeist wird, die das sonst verbreitete Maß wohl deutlich übersteigen und sich von daher ein periodisch eruptiv ausbrechender fundamentalistischer Glaube entwickelt hat, heißt das für sie: im Unterschied zu ihr (falls der Herr nicht noch eine ungesühnte Schuld bestrafen muss) kommen ihre Kinder nicht in den Himmel, sondern leider in die Hölle. Wobei nicht das unweigerliche Leiden der Nachkommen das Problem ist, sondern die ewige Fortsetzung des irdischen Daseins: Einsamkeit, Angst, Depression, Unerlöstheit.

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