michmaschine

Lost in Media

Schlagwort: Moabit

Stilwerk Moabit

Wenige Meter von meinem Hauseingang entfernt steht seit ein paar Tagen ein modisches Sofa mit einem Zettel dran: “Zum Chillen”. Sicher genau der richtige Ort zum Entspannen im nasskalten Herbst im neuen Szenekiez der Hauptstadt. Das Sofa ist ein Markenprodukt, besteht aus zwei fast quadratisch gehaltenen Flächen, grau-schwarzer Stoff mit großer anthrazitfarbener Sitzfläche, anscheinend makellos. Es nimmt die Hälfte des Gehwegs ein. Aber der Verlust ist ein Gewinn. Wohl nirgendwo in der Stadt wird dem Passanten eine so abgefahrene Möglichkeit zum Relaxen und intensiven Ausspannen geboten. Seit gut drei Jahren ist Moabit der It-Bezirk, also mit steigenden Mieten, Ökoläden, Vintage-Boutiquen, neubürgerlich gediegenen Restaurants und Cafés, die von aufgeschlossenen jungen Männern betrieben werden, Sexappeal und individuelle Ausstrahlung bestimmen das Lebensgefühl. Die Straßen sind bevölkert von Models und Hipstern. Die Stimmung ist urban, die Luft riecht nach Erfolg und Aufbruch. Am Eingang zum U-Bahnhof Turmstraße betteln an beiden Enden der Treppe Migranten. Unten durchsuchen deutsche Wohlstandsbürger, die sich sicher nur etwas dazuverdienen wollen, die Papierkörbe. Die einen werfen weg – die anderen sammeln die noch verwertbaren Reste. Das Prinzip der Nachhaltigkeit setzt sich auf natürlichem Wege durch. Zu Recht beklagen radikale Kritiker der Gesellschaft den Nonsens von Klimagipfeln. Das reale Leben der Großstädter ist über die Fixierung auf solche Symbolveranstaltungen längst hinaus. Man nimmt das eigene Schicksal selbst in die Hand.

So also auch das Sofa. Offenheit und Menschenfreundlichkeit sind nicht nur leeres Gerede. Ein Möbelstück verwandelt sich durch den kreativen Akt des Hinstellens in einen Ort mit kommunikativem Fluidum. Hier wird eben nicht Müll entsorgt, sondern es handelt sich um eine moralisch einwandfreie Geste, eine hippe Aktion, ein Zeichen für mehr Gemeinschaft und Liebe zwischen den Menschen. Ein perfekter Ort für Begegnung, für Freude an guter Gestaltung und Stil wurde geschaffen.

Als ich heute morgen wieder am Sofa vorbei ging, lagen auf den Polstern eine leere Bierflasche und eine Papiertüte. Die Idee lebt also.

Morgen werde ich meinen alten Röhrenfernseher dazustellen mit dem Hinweis auf das allerorten übliche gesellige Tatort-Gucken am Sonntag und eine kleine Anleitung: “Hey, jetzt könnt ihr auch noch cool fernsehen – da ich weiss, wie kreativ wir sind und wie scheiße eine Gesellschaft ist, die ihre Bürger rundum versorgt und bevormundet, habe ich meinen Generator zum Sperrmüll gebracht. Um Strom müsst ihr euch also selbst kümmern. Viel Spaß damit!”

Der Friseur – Moabit kommt

Wo viele Jahre ein mit Druckerzeugnissen vollgestopfter Zeitungsladen sein am Ende tristes Dasein fristete, ist ein hiper Friseur eingezogen. Junge Menschen in Röhrenhose, mit Kopfbedeckung auch im Hochsommer, Bart (soweit möglich), dick gerandeter Brille, Nasenring sowie Tattoo signalisieren in authentischer Weise, dass man hier zu immensen kreativen Leistungen prädestiniert und bereit ist. Sicher sind alle große Idealisten oder wollen zumindest so erscheinen. Individualismus, unbedingter Wille zur kreativen Gestaltung nicht nur des Haupthaares, sondern des gesammten Lebens, Wettbewerbsfähigkeit und gediegenes Stilempfinden bilden hier keinen Gegensatz, sondern amalgamieren auf höchstem Ich-Level miteinander. Hinzu kommt ein deutlich sichtbarer bildungsbürgerlicher Hintergrund: Alle paar Tage erscheint auf einer Schiefertafel, daselbst mit Kreide beschrieben, ein neues Sprüchlein für die geschätzte Kundschaft, die anscheinend prinzipiell mehrheitlich im Freundeskreis angesiedelt ist. Neoliberale Weisheit wird feil geboten, ewig geltend und von bekannten Klassikern ausgebrütet. Deren Lebensweisheiten waren nicht immer vom Geist des Individualismus resp. Egoismus und des freien Marktes durchdrungen – bei den jungen Barbieren aber gibt es nur das: den Einzelnen mit dem festen Willen zu Erfolg, Leistung, Lifestyle, Selbstverwirklichung, zu Innovation, Einzigartigkeit, Risikobereitschaft, Glück. Wer auf Gesellschaft verweist, also bestehende Ordnungen, Institutionen, Zwänge, ist am falschen Ort. Unangepasstes Angepasst-Sein wird hier geschätzt.

Gesellschaft gibt es nicht. Von sowas reden nur Menschen mit negative Vibes oder Hartz IV-Empfänger. Solange der Zitatenschatz nicht erschöpft ist, wird an der Selbstermächtigung jedes einzelnen Menschen gearbeitet, d.h. vor allem: Grund zu Jammern oder zu Ohnmachtsgefühlen gibt es nicht. Das scheint hier vollends verinnerlichte Selbstverständlichkeit. Wer seine Biographie nicht selbst schreibt bzw. dazu zu schwach ist, hat selber Schuld. – Und wer es immer noch nicht verstanden hat, schaue unter Erfolgszitate.de nach – oder eben auf besagte Schiefertafel. (Nach dem Sinnspruch folgt der Gruß an die werte Kundschaft, immer mit Aufforderungscharakter, etwa: Genießt Euer Wochenende!) Die letzte handgeschriebene Botschaft lautet:

„Auf der Suche nach neuen Inspirationen sind wir mal weg! (Urlaub)

Das Außergewöhnliche geschieht nicht auf glattem, gewöhnlichem Wege (Goethe)

Schöne Zeit Euch!“

© 2025 michmaschine

Theme von Anders NorénHoch ↑

%d Bloggern gefällt das: