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Schlagwort: Kindheit

Derealisationen 8

Ich weiß nicht mehr wo es stand, aber Nietzsche hat mal geschrieben, dass wir unserer Kindheit, wenn wir erwachsen sind, nur als Trauernde begegnen können. Damals, als ich es las, dachte ich, es kommt darauf an, wie es so gewesen war in der Kindheit. Man könnte ja auch froh sein, dass es vorbei ist.
Heute vermute ich, er lag ganz richtig. Ich hatte den Gedanken nur halb begriffen, nämlich in dem Sinne, dass die Trauer sich darauf bezog, nicht mehr Kind zu sein und also nie wieder diesen glücklichen Zustand erleben zu können. Das ist die eine Sache, die andere ist noch viel trauriger und war mir deshalb damals vielleicht nicht in den Kopf gekommen: Eine furchtbare Kindheit gehabt zu haben, kann den Erwachsenen im Rückblick erst recht traurig machen.

 Wahrscheinlich gibt es das Gefühl ziemlich oft, betrogen worden zu sein um die kindliche Unbeschwertheit. Hatte man als Kind mehr Glück, weiß man als Erwachsener, dass diese Unbeschwertheit später auf dem natürlichen Weg der Ernüchterung verschwindet.
Und es gibt eine weitere Ursache für diese Trauer, denn selbst eine schreckliche Kindheit war nicht nur schrecklich. Das liegt am Kind, das aus allem das Beste macht. Selbst aus den größten Katastrophen holt es noch das heraus, was erträglich und lebenswert ist. Hätten Kinder diese natürliche Fähigkeit nicht, würden die meisten ihre Eltern nicht lieben. 

Dann ist es also so: Erwachsene trauern auf jeden Fall ihrer Kindheit nach. So oder so. Mehr oder weniger – das ist auch Typ abhängig.

Als ich neulich an eine bestimmte Phase meiner Kindheit dachte, ich war drei Jahre alt und wir lebten auf dem Land, fiel mir eine traurige Begebenheit ein. Ich spürte plötzlich wieder die Traurigkeit von damals, die ich nur in den Griff bekam, indem ich die Erinnerungen fallen ließ und mich dazu brachte, an etwas anderes zu denken.
Später kam ich aber darauf zurück, weil es mich etwas erschrocken hatte, und ich genauer wissen wollte, was mich eigentlich so verunsichert hatte. Erinnert hatte ich mich an unsere Katze Mieke, die vom Nachbarn, einem Bauer, getötet worden war. Es gab keinen guten Grund dafür, natürlich nicht, aber er hatte uns gewarnt, es zu tun, falls die Katze wieder auf seinem Grundstück herumliefe. Und er hat es dann getan, wie sollten wir es verhindern, Katzen gehen ihre eigenen Wege. Als Jäger und Hundeliebhaber hielt er die Katze wahrscheinlich für schlecht erzogen, er hatte uns ja gewarnt.

Als ich also daran dachte, war ich erstaunt, wie frisch die Trauer war. Und im nächsten Moment hätte ich heulen können, aber wie gesagt, ich würgte die traurigen Erinnerungen ab. Und saß dann da mit dem seltsamen Gefühl, eine Trauer zu empfinden, die ich damals nicht empfunden hatte. Obwohl ich natürlich wahnsinnig traurig gewesen war und viel geheult hatte. Ich meine mich zu erinnern, dass mich damals vor allem der Verlust erschütterte, dass vorweggenommene Gefühl, wie sehr sie mir fehlen würde. Das ging natürlich bald vorüber. Und wir haben sie auch nicht tot gesehen, ihren Kadaver nicht gefunden, sie war einfach weg. Also stellte ich mir vor, sie sei irgendwo im Wald, und das war dann wirklicher für mich, als ihr tatsächlicher Tod. So geht das, so ist es auszuhalten, wenn man Kind ist.

Heute geht das nicht mehr, der Tod ist die Realität, die geblieben ist. Und die Unbegreiflichkeit der Tat. Wieso hat er das getan? Bestimmt hab ich das damals meine Mutter gefragt und selbstverständlich keine Antwort bekommen, die irgendwas erklärt hätte. Die Bosheit ist ein schwer zu erklärendes psychologisches Phänomen, richtig schlüssig erscheint sie nie.

Die Heftigkeit dieser alten, aber frischen Trauer überrumpelte mich, also versuchte ich mir zu erklären, wie sie hatte so lange überleben können. Und kam auf den Gedanken einer sozusagen nachholenden Trauer, die das frühere Empfinden vollständiger macht, also die Trauer um jene Aspekte erweitert, die damals noch nicht zugänglich waren. Denn was ich deutlich spürte, war eine Traurigkeit, die den Täter dieses Mal mit einbezog. Nicht das er mir leid tat, es ging um das „erwachsene“ Wissen, dass solche Taten menschlich sind. Während es für mich damals ein monströser und unbegreiflicher Einzelfall war, der mir zudem gar nicht ganz klar wurde, weil meine kindliche Vorstellungskraft nicht ausreichte, mir auszumalen, wie jemand ein Gewehr anlegt – im Spiel machte ich das oft -, ein Lebewesen ins Visier nimmt und wirklich abdrückt. Tötet.

Zu den Vielen gehen (lat. „ad plures ire“ für sterben)

Als Kind war ich begeistert von Flugzeugen. Ich fand die Dinger schön und das Abenteuer reizte mich. Die Technik hat mich nie interessiert. Später bekam ich dann Angst vorm Fliegen. Alle Flugzeuge, die ich je betreten habe, waren ziemlich hässlich, jedenfalls wenn man genauer hinsah: Weiße Rümpfe mit bunten Streifen und Schmutzschlieren und Rost, von den schäbigen Kabinenausstattungen ganz zu schweigen, Schalensitze aus Plastik, überall nur Kunststoff. Sie hatten natürlich nicht die geringste Ähnlichkeit mit den fliegenden Silberpfeilen aus der Pionierzeit der Luftfahrt, in die ich mich damals lesend hinein fantasierte. Beeindruckt von den vorsintflutlichen Maschinen und fasziniert von den Piloten, die auf verblichenen Fotos in seltsamen Hosen, schicken Jacken und Lederkappen neben ihren Fluggeräten posierten, hatte ich mir das Fliegen immer wie eine persönliche Heldentat vorgestellt.
Schon vor meinem ersten Flug, ich war so 10 Jahre alt und mit Papa und meinem Bruder auf dem Weg nach Italien, kamen mir erste Zweifel. Nichts deutete daraufhin, dass ein Abenteuer bevorstand, die anderen Leute am Check-In freuten sich nicht, sie hatten auch keine Angst, sie waren einfach an das Fliegen gewöhnt. Auf dem Flughafen in Neapel war es – obwohl ich die Alpen und sonnige Wolkengebirge von oben gesehen hatte – dann vorbei. Nicht, dass es mir damals klar gewesen wäre, aber meine Geschichte der Luftfahrt endete bereits nach diesem einen Flug. Noch am selben Tag stand ich im Hafen von Neapel und staunte über die kleinen Fischerboote und fand die Fischer ganz toll, die ruhig ihre Netze flickten, wo sie doch gerade draußen auf dem Meer ihr Leben riskiert hatten. Ich wollte dann Taucher werden. Unten herum schweben bei den Fischen, und las die Bücher von Jacques Cousteau und sammelte Klebebildchen für das Hans-Hass-Album “Vorstoß in die Tiefe”. Das Sammelalbum und die Bilder dafür wurden an Esso-Tankstellen verkauft, die zum Ölkonzern ExxonMobile gehörten. Vielleicht war der Graben zwischen Umweltschützern und Ölkonzernen damals noch nicht so tief, heute ist Exxon vor allem bekannt für die katastrophalsten Tankerunglücke, die die Welt gesehen hat.
Und Hans Hass ist tot (16. Juni 2013).

“Der Traum vom Fliegen” ist, glaube ich, immer so eine Kindersache gewesen. Solange er nicht wahr geworden war, haben ihn manche der großen Jungs und Mädchen weiter geträumt. Das ist natürlich vorbei. Wenn die Industrie etwas gründlich zerstört hat, ist es – neben der Natur – die Möglichkeit vom Unmöglichen zu träumen. Sie macht ja früher oder später alles möglich. Und zwar für jeden von uns.
Nebenbei wurde ihr alles geopfert, was wirklich wertvoll ist: Menschen, Landschaften, Dörfer und Städte, das Meer und vor allem das, was man vielleicht das “Soziale” nennen kann: die nichtökonomischen Beziehungen, die Gesellschaft erst erträglich machen.

Ob es früher besser war? Das interessiert mich so wenig wie Flugzeugtechnik. Jetzt jedenfalls ist es nicht gut und nach der Zersetzung der natürlichen Lebensgrundlagen verbreitet sich vor allem Angst. Keine kindliche Angst vor Monstern, eine erwachsene, die sich überall einschleichen und alles besetzen kann und die zum eigentlichen Lebensgefühl wird, ohne ihre Ursachen zu verraten.
Jeder hat eine Therapie nötig. Und die Psychoindustrie hält für jede Angst passende Angebote bereit: Flugangst kann man selbstverständlich auch therapieren.

Bei mir ist die Flugangst mit den Jahren einfach so verschwunden, wie auch meine kindliche Leidenschaft für’s Fliegen verschwunden ist. “Verschwunden” trifft nicht ganz zu, sie wurde ersetzt: Für die Angst vor dem Sterben brauche ich heute keine Flugzeuge mehr. Sie kommt jetzt zu mir durch den Tod der Menschen, die ich geliebt habe. Sie beginnen langsam auszusterben.
Auch der Wunsch zu fliegen, ist nicht einfach verschwunden. So wie ich damals davon geträumt habe, wirklich im Schlaf geträumt habe, abzuheben, zu schweben und höher zu steigen und mit einem unbeschreiblich aufregenden Gefühl über meine Stadt und immer weiter zu fliegen, so träume ich heute davon, meine Toten wiederzutreffen. Nichts wünsche ich mir mehr und nichts ist “kindischer”, also unmöglicher, als das.
Noch ist keine Industrie in Sicht, die diesen brennenden Wunsch erfüllen könnte.  Es bleibt uns nur selbst zu den Toten zu gehen, dorthin, wo sie mit Sicherheit nicht sind, wo sie sich aber finden lassen, in den Träumen und Wünschen, die eben nicht von einer Realität besänftigt werden, die öde und fertig industrialisiert ist. Die Toten sind da, wo wir sie haben wollen. Mit einer Ausnahme: Sie sind nicht mehr unter uns Lebenden.
Diese eine Ausnahme, die nicht irgendeine, sondern die entscheidende Ausnahme ist, muss man lernen auszuhalten. Irgendwie. Was es bedeutet, damit nicht zurecht zu kommen, kann man an den vielen Zynikern sehen, die das Leben selbst nicht zu schätzen wissen, weil es zu schmerzhaft ist. Zynisch ist es, alles Lebenswerte zu entwerten, weil es sterben wird.

Wer nicht zu früh stirbt, kommt irgendwann an den Punkt, an dem sich die eigenen Kreise, die bis dahin größer und größer wurden, wieder zusammenziehen. Die Möglichkeiten nehmen nicht mehr zu, sie nehmen plötzlich ab. Besonders schmerzhaft sichtbar wird das, wenn Freunde und Verwandte sterben, mit denen man eng verbunden war. Ein Teil des eigenen Lebens verschwindet mit ihnen und wird ersetzt … ja, durch was? … durch Traurigkeit und Erinnerungen? Das ist schwer auszuhalten.
Es ist schon keine geringe Anstrengung, die Toten nicht dafür zu verachten, dass sie gestorben sind. Dafür, dass sie uns zurücklassen mit Schmerzen, die sie uns als Lebende nicht zufügen konnten. Die Toten machen das eigene Leben schwerer und schwerer. Davor keine Angst zu haben, ist ja fast nicht möglich. Für diejenigen, die nicht vergessen wollen, gibt es keine andere Möglichkeit, als das zu ertragen.

 

Für Stefan und Bakri.

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