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Schlagwort: Fliegen

Derealisationen 12

Was ist daraus geworden? Aus der gefühlten Sicherheit. Die ist weg und auch die illusionären Vorstellungen von Unsterblichkeit, die ich erst bemerkte, als sie sich auflösten. Hatte ich jemals geglaubt, unsterblich zu sein? Natürlich nicht. Aber doch so gelebt und gedacht, ganz unbewußt. Und auch die Idee von Vollendung hat sich verabschiedet, als müsste sich jedes Leben wie ein Kreis schließen, als sei es erst zu Ende, wenn alles getan ist… aber so ist es eben nicht. Es ist vorbei, wenn es vorbei ist, nicht wenn es uns „rund“ erscheint. Das ist so offensichtlich, und doch als echte Erfahrung erst jetzt bei mir angekommen. Dafür mussten Menschen sterben. 

Es ist genug, es reicht jetzt damit. Obwohl sich noch viel angesammelt hat an Text und Notizen. Irgendwann sollte Schluss sein oder eine Wendung eintreten, wieder mehr zum Leben hin. Das war zwar immer mit gemeint, aber vor allem um Trauer und Abschied und so weiter überhaupt als Schmerz richtig begreifen zu können. Das heißt jetzt also, Abschied vom Abschied zu nehmen.

Nur eine Sache bleibt wirklich noch zu tun, nämlich den Übergang hinzubekommen, vom Trauertext zu einem anderen, neuen, der jetzt noch nicht ganz klar ist, der aber herbei geschrieben werden könnte aus dem Wunsch nach Veränderung. So wie der Traurigkeit in den DEREALISATIONEN ein persönliches Denkmal gesetzt wurde, hätte ich jetzt gern VISIONEN von dem noch zu lebenden Leben. Wie es weiter geht. Die Maschine läuft, stockend. 
Es ist ein Anfang mit der Hoffnung auf Besserung, die in diesen letzten Texten steckt. Es lohnt sich nicht, sie wegzuwerfen. 

Letzte Texte 1

Wer einem „friedlich“ Sterbenden zusieht, wartet auf den Moment. Und die Dramaturgie ist dabei oft ähnlich: Die Atemzüge werden tiefer und seltener, die Pausen zwischen ihnen länger, so lang, dass man sich fragt, ob es schon vorbei ist. Aber der letzte Atem ist dann doch eindeutig, weil mit ihm wirklich sichtbar das Leben „ausgehaucht“ wird. Erst dann, tritt eine Veränderung ein, die sofort zu sehen ist: die Leiche, die jetzt erscheint, der Mensch ist bereits Vergangenheit. Die Überreste verändern sich, das kann man gerade in den ersten Minuten eindrücklich sehen, und es wirkt gespenstisch, wie zwischen Leben und Tod, aber wir wissen schon, wie es endet, mit der Zersetzung des Körpers in seine kleinsten Teilchen. Sie werden in dieser Form nicht wieder zusammenkommen. Sind aber noch da. Der Kreislauf geht weiter, ohne den Menschen. Das hat nichts Tröstliches für die, die übrig geblieben sind.

Trost gibt es nicht im Tod, sondern im Leben, er muss vorher gefunden werden, sozusagen vorbereitet werden, am besten mit Sterbenden gemeinsam (und vielleicht noch besser: Bevor sie Sterbende werden).

Letzte Texte 2

Ich erinnere mich vom Fliegen geschrieben zu haben, den Vögeln (DR 5), und den Fischen, die unten herum schweben (Zu den Vielen gehen).

Nun fand ich eine seltsame Entsprechung bei Vilem Flusser. In „Vogelflüge“. 
Aus „Vögel“, dem titelgebenden Text:

Nachdem der Mythos [des Fliegens] aufgehört hat, ein unmöglicher Traum zu sein, wurde er ein unträumbarer Traum, der weiterbesteht. Wenn eine der fundamentalen Thesen des Marxismus lautet, daß verwirklichte Träume tote Träume sind, wird dabei die Dialektik vergessen: Tote Träume bestehen weiter. Es ist klar, wir können fliegen, und wir können „besser“ fliegen, als es Leonardo träumte, doch zugleich ziehen wir Leonardos Traum unserer Realität vor. Es nützt nichts, daß der Flugplatz „Aeroporta Leonardo da Vinci“ (diese Vulgarität ist für die Realität unserer Flüge charakteristisch) heißt.

Von den toten Träumen geriet ich ohne große Umwege zu den Toten selbst und zum unmöglichen Wunsch sie wiederzusehen. Eine Ahnung davon, wie absolut der Verlust ist, schleicht sich schon ein, bevor wir unseren ersten Toten begegnen. Sie liegt im Unmöglichen, das unsere Träume beflügelt.

Flusser schreibt:

Wenn wir den Flug als zu verwirklichenden Wunsch erleben, entmystifizieren wir ihn, ohne uns von dem Mythos zu befreien. Wir können keine unmöglichen Träume mehr haben. Was uns bleibt, ist der unmögliche Wunsch, Unmögliches zu wünschen. Ist dieser Blick apokalyptisch…?

Vielleicht nicht apokalyptisch, aber enttäuschend. Wie so ziemlich jede Realitätsprüfung. Das Verschwinden des Unmöglichen ist absolut und unumkehrbar ein Abschied von der Kindheit, die sich bis ins hohe Lebensalter halten kann. Aber das Überraschende daran ist doch, dass mit der Zunahme unserer Möglichkeiten – hier der Verwirklichung des Menschheitstraums vom Fliegen – die Enttäuschung am Leben zunimmt. Damit ist offensichtlich nicht nur ein kulturhistorischer Vorgang gemeint, er findet seine Entsprechung in jedem persönlichen Leben, das nicht in seinen Anfängen stecken bleibt. Man hatte anderes erwartet. Mehr! Selbst wenn eigentlich alles da ist, was man sich gewünscht hat. Nur das Unmögliche, das in den Träumen lebte, ist durch die ständige Erweiterung der Möglichkeiten nach und nach verschwunden.

 Wer nicht zu früh stirbt, kommt irgendwann an den Punkt, an dem sich die eigenen Kreise, die bis dahin größer und größer wurden, wieder zusammenziehen. Die Möglichkeiten nehmen nicht mehr zu, sie nehmen plötzlich ab. Besonders schmerzhaft sichtbar wird das, wenn Freunde und Verwandte sterben, mit denen man eng verbunden war. Ein Teil des eigenen Lebens verschwindet mit ihnen und wird ersetzt … ja, durch was? … durch Traurigkeit und Erinnerungen? Das ist schwer auszuhalten. (Zu den Vielen gehen)

Das ist nicht alles: Traurigkeit, Erinnerungen und älter werden und damit abnehmend die noch zu verwirklichenden Möglichkeiten. Das muss nicht nur tragisch sein, vielleicht steckt – in der Umkehrung – in der Abnahme der Möglichkeiten ein neuer, tröstlicher Traum. Ein Traum ohne Hoffnung auf zukünftige Erfüllung, aber mit der Garantie nicht mehr vom Leben enttäuscht zu werden. Es wäre schön, im hohen Alten nicht durch und durch desillusioniert zu sein, sondern in neuen Träumen zu leben.

Letzte Texte 3

„Man stirbt, wie man gelebt hat“. Stimmt das? Ängstlich vielleicht. Oder selbstzufrieden. Glücklich sogar? Oder wie ein Idiot, der nicht zu leben verstanden hat und dann also auch nicht kapiert, dass es aus ist?

Dass die Erfahrung des Todes durch das zuvor gelebte Leben mitbestimmt wird, das scheint jedenfalls unabweisbar zu sein.

Der Tod ist eine Tatsache. Es braucht keinen wissenschaftlichen Beweise dafür. Wir wissen es. Aber über das Wissen hinaus, dass wir sterben werden, weil Menschen eben sterben, gibt es außerdem

tausend Weisen, in denen wir unseren eigenen Tod vorausfühlen können und eine dunkle Vorstellung von ihm gewinnen können.
(Paul Ludwig Landsberg: Die Erfahrung des Todes)

In Krankheit, im Schlaf und Ohnmachten oder in Derealisations – und Depersonalisationserlebnissen und vielem mehr. Nur: Nehmen wir es auch wahr? Für die vielen Gelegenheiten, in den Tod vorzufühlen, kommt es doch selten vor. Wer nicht sterben will oder kann, lässt die Ahnung unbeachtet, es braucht schon ein echtes Wollen den Tod im Leben zu spüren. Es macht vielleicht zu große Angst; denn der Wille scheint gefährlich, er könnte das Tor hin zum wirklichen Sterben öffnen. Er schwächt. Wer bringt sich freiwillig in solche Gefahr? Und es geht ja auch anders: Die überzeugendste Weise unseren Tod vorauszufühlen, besteht nicht in dem, was wir am eigenen Leib erfahren können, sondern im Mitfühlen. Immer dann, wenn wir durch den Tod eines anderen tief betroffen sind.

Ein klares Bewusstsein von der Notwendigkeit des Todes wird aber erst möglich durch die Teilhabe, durch die persönliche Liebe, in der diese Erfahrung von Anfang an beschlossen lag. Wir haben mit dem, der da stirbt, einen Bund geschlossen, wir haben zusammen mit ihm ein „wir“ gestiftet.

In diesem „wir“ nun, und gleichsam mitgerissen durch die Eigenart dieses neuen Wesens persönlich akthafter Ordnung, werden wir zu einer erlebten Kenntnis unseres eigenen Sterbenmüssens hingerissen. Wir folgen dem „wir“, das zerbricht, indem wir dies Zerbrechen erleben, bis an die äusserste Grenze des „Jenseits“; ja, einen Augenblick berühren wir gleichsam die Atmosphäre, die aus dem Lande des Todes kommt, gehen wir ein in die äusserste Entfremdung, die die geliebte Person alsbald aus der bekannten Weise des Zusammenhangs mit uns hinwegnimmt.
(Paul Ludwig Landsberg: Die Erfahrung des Todes)

Was hier beschrieben wird, wenn auch etwas kompliziert, ist die höhere Evidenz des eigenen Erlebens, wenn es echter Empathie entspringt, und damit eben nicht nur die eigene, sondern eine geteilte Erfahrung ist. Dieses über sich Hinausgehen und in Verbindung zu sein, ist nun ein Wesen persönlich akthafter Ordnung, anders gesagt: es ist der Prozess des Erkennens, früher oder später das gleiche Erleben zu müssen wie die geliebte sterbende Person. Es gibt keinen anderen Weg zu dieser Erkenntnis zu kommen, keinen wissenschaftlichen und auch keinen religiösen. Sicher weiß man, dass man sterben wird, aber wahr wird es erst, wenn man es miterlebt hat. Und das auch nicht irgendwie oder mit irgendwem, sondern mit einem geliebten Menschen. So befremdlich es erscheinen mag, die Liebe ist nicht nur notwendig für ein gutes Leben, sie macht es auch möglich, dem eigenen Tod zu begegnen, ohne sterben zu müssen. Unter tragischen Umständen zwar, aber gerade im Zerbrechen wird das „wir“ noch einmal besonders schmerzlich erfahren als jene dritte Daseinsweise, neben dem „Ich“ und „Du“. Nur in dieser dritten Lebensweise ist die Vorahnung von Trennung und Verlust gegeben, bis sie unweigerlich irgendwann für das „wir“ real wird. Ohne Liebe können Ich und Du die Wirklichkeit des Todes nicht begreifen. Das macht sie so einzigartig wertvoll für das Leben.

Zu den Vielen gehen (lat. „ad plures ire“ für sterben)

Als Kind war ich begeistert von Flugzeugen. Ich fand die Dinger schön und das Abenteuer reizte mich. Die Technik hat mich nie interessiert. Später bekam ich dann Angst vorm Fliegen. Alle Flugzeuge, die ich je betreten habe, waren ziemlich hässlich, jedenfalls wenn man genauer hinsah: Weiße Rümpfe mit bunten Streifen und Schmutzschlieren und Rost, von den schäbigen Kabinenausstattungen ganz zu schweigen, Schalensitze aus Plastik, überall nur Kunststoff. Sie hatten natürlich nicht die geringste Ähnlichkeit mit den fliegenden Silberpfeilen aus der Pionierzeit der Luftfahrt, in die ich mich damals lesend hinein fantasierte. Beeindruckt von den vorsintflutlichen Maschinen und fasziniert von den Piloten, die auf verblichenen Fotos in seltsamen Hosen, schicken Jacken und Lederkappen neben ihren Fluggeräten posierten, hatte ich mir das Fliegen immer wie eine persönliche Heldentat vorgestellt.
Schon vor meinem ersten Flug, ich war so 10 Jahre alt und mit Papa und meinem Bruder auf dem Weg nach Italien, kamen mir erste Zweifel. Nichts deutete daraufhin, dass ein Abenteuer bevorstand, die anderen Leute am Check-In freuten sich nicht, sie hatten auch keine Angst, sie waren einfach an das Fliegen gewöhnt. Auf dem Flughafen in Neapel war es – obwohl ich die Alpen und sonnige Wolkengebirge von oben gesehen hatte – dann vorbei. Nicht, dass es mir damals klar gewesen wäre, aber meine Geschichte der Luftfahrt endete bereits nach diesem einen Flug. Noch am selben Tag stand ich im Hafen von Neapel und staunte über die kleinen Fischerboote und fand die Fischer ganz toll, die ruhig ihre Netze flickten, wo sie doch gerade draußen auf dem Meer ihr Leben riskiert hatten. Ich wollte dann Taucher werden. Unten herum schweben bei den Fischen, und las die Bücher von Jacques Cousteau und sammelte Klebebildchen für das Hans-Hass-Album “Vorstoß in die Tiefe”. Das Sammelalbum und die Bilder dafür wurden an Esso-Tankstellen verkauft, die zum Ölkonzern ExxonMobile gehörten. Vielleicht war der Graben zwischen Umweltschützern und Ölkonzernen damals noch nicht so tief, heute ist Exxon vor allem bekannt für die katastrophalsten Tankerunglücke, die die Welt gesehen hat.
Und Hans Hass ist tot (16. Juni 2013).

“Der Traum vom Fliegen” ist, glaube ich, immer so eine Kindersache gewesen. Solange er nicht wahr geworden war, haben ihn manche der großen Jungs und Mädchen weiter geträumt. Das ist natürlich vorbei. Wenn die Industrie etwas gründlich zerstört hat, ist es – neben der Natur – die Möglichkeit vom Unmöglichen zu träumen. Sie macht ja früher oder später alles möglich. Und zwar für jeden von uns.
Nebenbei wurde ihr alles geopfert, was wirklich wertvoll ist: Menschen, Landschaften, Dörfer und Städte, das Meer und vor allem das, was man vielleicht das “Soziale” nennen kann: die nichtökonomischen Beziehungen, die Gesellschaft erst erträglich machen.

Ob es früher besser war? Das interessiert mich so wenig wie Flugzeugtechnik. Jetzt jedenfalls ist es nicht gut und nach der Zersetzung der natürlichen Lebensgrundlagen verbreitet sich vor allem Angst. Keine kindliche Angst vor Monstern, eine erwachsene, die sich überall einschleichen und alles besetzen kann und die zum eigentlichen Lebensgefühl wird, ohne ihre Ursachen zu verraten.
Jeder hat eine Therapie nötig. Und die Psychoindustrie hält für jede Angst passende Angebote bereit: Flugangst kann man selbstverständlich auch therapieren.

Bei mir ist die Flugangst mit den Jahren einfach so verschwunden, wie auch meine kindliche Leidenschaft für’s Fliegen verschwunden ist. “Verschwunden” trifft nicht ganz zu, sie wurde ersetzt: Für die Angst vor dem Sterben brauche ich heute keine Flugzeuge mehr. Sie kommt jetzt zu mir durch den Tod der Menschen, die ich geliebt habe. Sie beginnen langsam auszusterben.
Auch der Wunsch zu fliegen, ist nicht einfach verschwunden. So wie ich damals davon geträumt habe, wirklich im Schlaf geträumt habe, abzuheben, zu schweben und höher zu steigen und mit einem unbeschreiblich aufregenden Gefühl über meine Stadt und immer weiter zu fliegen, so träume ich heute davon, meine Toten wiederzutreffen. Nichts wünsche ich mir mehr und nichts ist “kindischer”, also unmöglicher, als das.
Noch ist keine Industrie in Sicht, die diesen brennenden Wunsch erfüllen könnte.  Es bleibt uns nur selbst zu den Toten zu gehen, dorthin, wo sie mit Sicherheit nicht sind, wo sie sich aber finden lassen, in den Träumen und Wünschen, die eben nicht von einer Realität besänftigt werden, die öde und fertig industrialisiert ist. Die Toten sind da, wo wir sie haben wollen. Mit einer Ausnahme: Sie sind nicht mehr unter uns Lebenden.
Diese eine Ausnahme, die nicht irgendeine, sondern die entscheidende Ausnahme ist, muss man lernen auszuhalten. Irgendwie. Was es bedeutet, damit nicht zurecht zu kommen, kann man an den vielen Zynikern sehen, die das Leben selbst nicht zu schätzen wissen, weil es zu schmerzhaft ist. Zynisch ist es, alles Lebenswerte zu entwerten, weil es sterben wird.

Wer nicht zu früh stirbt, kommt irgendwann an den Punkt, an dem sich die eigenen Kreise, die bis dahin größer und größer wurden, wieder zusammenziehen. Die Möglichkeiten nehmen nicht mehr zu, sie nehmen plötzlich ab. Besonders schmerzhaft sichtbar wird das, wenn Freunde und Verwandte sterben, mit denen man eng verbunden war. Ein Teil des eigenen Lebens verschwindet mit ihnen und wird ersetzt … ja, durch was? … durch Traurigkeit und Erinnerungen? Das ist schwer auszuhalten.
Es ist schon keine geringe Anstrengung, die Toten nicht dafür zu verachten, dass sie gestorben sind. Dafür, dass sie uns zurücklassen mit Schmerzen, die sie uns als Lebende nicht zufügen konnten. Die Toten machen das eigene Leben schwerer und schwerer. Davor keine Angst zu haben, ist ja fast nicht möglich. Für diejenigen, die nicht vergessen wollen, gibt es keine andere Möglichkeit, als das zu ertragen.

 

Für Stefan und Bakri.

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