Gibt es eigentlich irgendwo noch Hoffnung? Zwischen Lübeck und Neustadt (Schleswig Holstein) jedenfalls nicht. Der Bahnsteig war leer. Als ich zustieg, saßen in der Regionalbahn (RB85) zwei ältere Männer, jeder allein in seinem eigenen Wagen, und für mich stand exklusiv der dritte Waggon bereit, also ging ich bis nach ganz hinten durch und setzte mich. Schön, die Beinfreiheit. Ich sah aus dem Fenster in den Nieselregen und dachte, vielleicht liegt es ja an mir: Wer fährt schon mitten in der Woche bei schlechtem Wetter an die Ostsee. Dann ließ ich das Grübeln sein und blickte wirklich nach draußen, in die Landschaft, und wusste: Meine Schuld ist es nicht. Landwirtschaft soweit das Auge reichte. Flach, grün, monoton. Wer ein gutes Versteck benötigt, sollte hierher kommen und sich einfach in die Landschaft stellen. Da draußen verschwimmt alles zu einem unterschiedslosen Nichts, grün in grün in grün. Verschluckt von einer unsäglichen Langeweile. Ein Baum huschte vorbei, zu schnell, um seine Art bestimmen zu können – eine Birke war es nicht, auch keine Kiefer, ein Baum eben, in dieser Gegend aber DER Baum, der letzte Überlebende.

Vom Zugfenster aus wirken verunstaltete Landschaften ja immer irgendwie erträglicher, weil die kleinen Katastrophen nicht richtig zu erkennen sind, hier aber wurde dadurch alles noch öder. Zum Einschlafen. Als ich aufwachte, hielt der Zug an einer Dorfstation. Nur ein Bahnsteig, kein Bahnhofsgebäude, ein Betonriegel abgestellt im Nichts. Sehr seltsam, dass sich auf dem Bahnsteig die Menschen nur so tummelten. Sie wuselten umher und sie waren sehr laut. Es handelte sich also um Kinder. Bloß nicht, dachte ich, jetzt hatte ich gerade so schön geschlafen, bitte, bitte, steigt vorne ein, bei den anderen beiden Opfern. Der Zug rollte noch und als er endlich stand, sah ich gegenüber durch das Fenster am Gang einen Haufen Haarschöpfe. Genau vor meinem Wagen. Die Türen flogen auf und der ganze Wagen füllte sich mit 12-jährigen, zum Glück nicht das schlimmste Alter, dachte ich, um mir die Sache schönzureden. Der Zug fuhr an und aus dem toten Winkel knallte eine 1,5-Literflasche mit roter Billigbrause in den Gang und verteilte seinen Inhalt von dort aus vor allem unter meinem Tisch. Oh, nee, Elvira, stöhnten die fünf Jungs, die auf den drei Plätzen mir gegenüber saßen. Eine süßliche chemische Wolke hüllte uns ein. Elvira ließ die Sache laufen, war ja doch nichts mehr zu machen. Irgendwer rief: Frau Mackensen, Elvira hat ihr Foxxies ausgekippt. Keine Antwort. Ich wandte mich kurz um, hauptsächlich um meinen Verdacht zu bestätigen, dass eine 10- oder 12-jährige mit dem Namen Elvira aus einer Menge von Kindern herausstechen würde, wie eine Ente unter Gänsen, oder andersherum, wie ein Schwan unter Hühnern, aber für mich sahen sie alle gleich aus. Irgendwie dumm nämlich. Wahrscheinlich wirkten sie nur so dumm, weil dieses blöde Missgeschick wirklich zu ärgerlich war, meine Schuhe klebten jetzt am Boden fest, und sie guckten wohl auch so leer und unbeteiligt, weil sie mir zutrauten einen Wutanfall zu bekommen; ich hatte möglicherweise ein bisschen Zorn in den Augen und murmelte und zischte. Die Jungs gegenüber waren schon nicht mehr bei der Sache, jetzt hatten sie plötzlich alle Smartphones in der Hand und tauchten ihre Gesichter in das blaue Licht der Displays.
Hast du Netz, fragte der am Fenster.
Ja, sagten alle, aber kein wlan.  Es soll doch wlan geben im Zug. Warum kein wlan.
Ich hab wlan, sagte der in der Mitte. Ausgerechnet der Pfau der Gruppe, der mit seinen hochgegelten Haaren aussah, als hätte er gleich einen Termin beim Kindershooting. Für H&M oder so. Und danach noch Hockey-Training.
Hast du meine mail bekommen?
Ich hab kein wlan. Hab ich doch gesagt.
Du auch nicht.
Ich ja.
Ich mach What’s App.
Krass, ich hab auch wlan.
Was hast du getextet?
Nix, nur zum Test.
Mach ich auch.
Jetzt ist mein wlan weg.
Frau Mackensen, wann steigen wir aus? (Keine Antwort)
Und gesendet!
Elvira, was hast du gestern gesnapt?
Wann?
Nach Hansaland.
Nix. Bei McDonalds gabs kein Netz.
Das ist so scheiße hier.
Kinder aussteigen, rief Frau Mackensen aus dem Nachbarwagen, wir fuhren schon am Bahnsteig ein. Zwei Minuten später herrschte Totenstille. Ich war wieder allein. Zurück blieb nur der ätzende Bonbondunst, das widerlich sabbschende Geräusch meiner gezuckerten Schuhsohlen und die leere Plastikflasche, die von vorn nach hinten und andersrum durch den Wagen polterte. Was war denn das, dachte ich, ein Heuschreckenüberfall. Kinder sind schrecklich und vor allem einfältig, merken die denn nicht, dass es völlig egal ist, ob sie hier wlan haben? Gott, sind die langweilig. Anstatt sich über irgendwas anderes zu unterhalten.
Ich sah aus dem Fenster. Immer noch diese Einöde. Grüne Hölle. Scheiß Deutschland. Dann holte ich mein Handy raus. Ach, sieh an, wlan!