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Lost in Media

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Weihnachten – eine Heimsuchung

Alle 10 Monate nähert sich scheinbar zur Freude aller das alljährliche Weihnachtsspektakulum wie ein Sturm der Frömmelei und des schlechten Geschmacks. Die weihnachtliche Süßwarenmarge gelangt spätestens im September in die Supermärkte. Anfang November rüstet der sog. Einzelhandel weihnachtlich auf, inklusive Deko und festlicher Kundenbeschallung. Desgleichen sorgen Weihnachtsmärkte (59 allein in Berlin) für authentische Stimmung. Um dem Geist der Weihnacht teilhaftig zu werden, in natürlicher Verbindung mit der Erfüllung meiner primären Bürgerpflicht, bin auch ich an einen Ort des Produkterwerbs gepilgert. In der Adventszeit bin ich legitimiert zu ein wenig hemmungslosem Konsum. Weiterlesen

Liebe in Zeiten der Selbstoptimierung

Kontaktanzeigen in Zeitschriften gibt es ja kaum noch. Bevor der ganze Bereich ins Internet gewandert ist, füllten die “M sucht W”-Spalten immer einige Seiten, während die Anzeigen suchender Frauen naturgemäß seltener waren und oft mit einer halben Seite auskamen. Aber es gab sie immerhin und ich hatte die Angewohnheit, Stadtmagazine zuerst hinten aufzuschlagen und die“W sucht M”-Rubrik durchzusehen. Das war schnell erledigt, die meisten Anzeigen glichen sich, es gab bestimmte Muster, nach denen solche Texte üblicherweise gestaltet wurden: Oft folgte auf die Selbstdarstellung als liebenswerter Sonnenschein eine Liste mit Vorzügen, die potentielle Bewerber mitbringen müssten. Weiterlesen

“I am an Antichrist”: Punk Science vs. Zombie Politics

Ich will jetzt mal etwas über “das Böse” schreiben. Ist das eigentlich erlaubt? So ein Griff in die oberste Schublade, “das Böse”, ja, genau, “das”, verlangt ja nach wissenschaftlicher Gründlichkeit, Philosophie, Psychologie und auch die Religion redet bei dem Thema nicht nur mit, sondern hat eigene alte Ansprüche, historisch betrachtet, handelt es sich beim Bösen um ihre Erfindung. Die Religion hat das Böse in die Welt gebracht, natürlich als Antipode zu sich selbst, aber das ändert nichts: Es gibt das Gute nur, weil das Böse existiert. Und nach ihrer ersten Hochzeit und dem anschließenden Niedergang sieht es heute so aus, als würde ein neues Zeitalter der Religion anbrechen, dieses Mal unter verkehrten Zeichen, im Namen eines bösen Gottes. Mag sein, dass es nicht stimmt, dass es viel zu pathetisch oder sogar selbst religiös erscheint, heute so auf die Welt zu blicken – nur, ist es gar kein Blick, also keine bestimmte Perspektive, die dazu führt, die heutige Welt wieder als ein religiöses Zerrbild einer viel komplexeren Realität wahrzunehmen, es ist gerade der Wunsch das nicht zu tun, die Vorstellung, dass alle Religionen doch schon lange ausgedient haben müssten, gerade diese Vorstellung macht doch vollkommen klar, dass es eben nicht so ist: Die meisten Menschen sind Gläubige, Anhänger institutionalisierter Religionen. Weiterlesen

Importweltmeister

Neulich kam in der Tagesschau die Meldung, dass die deutsche Wirtschaft wieder enorme Exportüberschüsse erwirtschaftet hätte. Seltsam, dachte ich, ist es wirklich so lange her, dass ich Nachrichten gesehen habe. Ich meinte mich nämlich daran zu erinnern, beim letzten Mal die gleiche Meldung gehört zu haben. Mir klang noch das Wort “Export-Weltmeister” in den Ohren, ein weiterer Triumph, der dem Fleiß und sicher noch anderen hervorragenden Eigenschaften der Superdeutschen zu verdanken war. Weiterlesen

Jogi Berner schwimmt nicht mehr

Ich war ein bisschen betroffen, als ich neulich einen Artikel über das Schicksal von Jogi Berner las. Der Single-Rentner hatte ein mittelmäßiges Leben geführt, voller selbstverschuldeter Langeweile. Es war ein langer Text über Einsamkeit, interkulturelle Missverständnisse und über die ganz großen, nahezu sinnlosen Fragen, die sich Herr Berner vermutlich nicht gestellt hat, weil er ausreichend mit der Bewältigung seines Alltags beschäftigt war. Das sei nicht zu kritisieren, schließlich wäre es schwer genug, die täglichen Aufgaben zu meistern, sie würden die größten und wahren Probleme aufwerfen, wie der Autor meinte. Es bliebe aber offen, ob es sich überhaupt lohnen würde, diesen stetigen Kampf gegen die Umstände zu führen, wenn nicht ein größerer, persönlicher Lebenssinn die Einzelteile zusammenhalten würde. Weiterlesen

Berlin bleibt doch Berlin – die Berliner Abendschau vom 2.9.16

Es ist wieder soweit. Die Berliner Abendschau startet, wohl ähnlich wie Anfang der 70er Jahre, um 19.30 Uhr. Formal und inhaltlich hat sich nicht viel verändert. Das muss nicht von Nachteil sein. Würde meine Oma noch leben, könnte sie nach über 40 Jahren Abstinenz sicher mühelos an das Magazin anschliessen. “Hallo Berlin” ist die zeitlos volkstümliche Begrüßungsformel des Moderators Sascha Hingst.

“Die Flüchtlingkrise ist ein Milliardengeschäft für alle, die mit der Unterbringung der Menschen Geld verdienen”, so beginnt die Moderation zum ersten Beitrag und man fragt sich, ob nicht auch gilt: die sog. Flüchtlingskrise ist ein Milliardenverlust für alle, die mit der Unterbringung von Geflüchteten kein Geld verdienen. – Zwei Heimbetreiber werden des Betrugs verdächtigt; es hat Razzien gegeben. Die eindrucksvollste und abscheulichste Szene: Helmuth Penz, Chef des Unternehmens PeWoBe, älterer Herr in Anzug und Krawatte, besucht eines seiner Heime und nutzt die Anwesenheit der Kamera, baut sich gegenüber einem Kind auf, duckt sich wie ein Ringer, schaut ob die Kamera läuft, streckt wie ein perverser Clown die Zunge raus. Das Kind lächelt verlegen ob der absurden Überrumpelung. Man glaubt dem Mann sofort, dass er niemals illegal für fiktives Personal kassiert hat. Weiterlesen

Georg

Gegenwehr ist zwecklos. Duzen ist Pflicht. Wir werden ohne Umschweife nach unseren Vornamen gefragt. Dann stellt Georg sich vor und bietet uns an, mit den kurz vor uns eingetroffenen Gästen, denen er sein Auto geliehen hat, in die nächste größere Stadt (vermutlich Gartow oder Wittenberge) zum Essen zu fahren. Denn im näheren Umkreis gibt es keine Gastronomie.

Muff Potter ist die unmittelbare Assoziation bei Georg – allerdings in der freundlichen und liebenswerten Variante. Ein alter Herr mit weißem Vollbart und abgekämpften, von vielen Äderchen durchzogenen Augäpfeln. Seine Fahne ist unabweisbar und seine Bronchien können es mit den Quietschgeräuschen von CSU-Urgestein und Bayern-Separatist Wilfried Scharnagl allemal aufnehmen.

Kurz nach der Wende hat Georg seinen Job in Krefeld gekündigt. Mit seiner Frau kaufte er das gut erhaltene Gebäude im 105-Seelen-Dorf Wanzer am Aland in Sachsen-Anhalt http://www.ferienundwohnen.de/mieten/hotel-pension-hp31612?ps=deutschland-urlaub%2Faltmark%2Fferienunterkunft-in-aland-ot-wanzer. Vieles ist im ursprünglichen Zustand belassen. – Dann starb seine Frau. Georg hat das Haus längst seinem Sohn überschrieben. Das ehemalige kleine Gasthaus, zunächst nach der Wende noch als Dorftreffpunkt weiterbetrieben, ist heute Wohnbereich und Frühstücksraum für maximal 6 Gäste. An der Wand hängen seit Jahrzehnten diverse Geweihe und ein riesiger Wildschweinkopf. Tresen und Zapfhahn stammen vermutlich noch aus Vorkriegszeiten.

Am Morgen wirkt Georg ziemlich fit. Seine Garderobe passt zur Einrichtung: weites Shirt und Bollerhose mit Hosenträgern. Er macht selbst Frühstück und Kaffee für alle.

Seine Gestalt, seine nicht ohne eigenes Zutun beeinträchtigte Gesundheit und seine Direktheit flößen ein wenig Respekt ein. Hin und wieder streicht er seinen Gästen sanft über die Schulter, um seine Zuneigung auszudrücken – sicher könnte er selbst davon einige gebrauchen.

The long and winding road. Hoffentlich bist Du noch eine lange Weile unterwegs.

Maulhelden

Vielleicht hab ich mich zu sehr daran gewöhnt, dass es Realitäten gibt, die nicht in mein Weltbild passen. Rechtsradikale, eigentlich ja unvorstellbar, ISIS, AfD, Investmentbanker, Drohnen, kämpfende Truppen und so weiter, kenne ich zwar alle persönlich nicht, gibt es aber angeblich trotzdem. Jedenfalls hör ich viel davon. Sogar soviel, dass ich mich frage, weshalb die in meiner Wirklichkeit überhaupt nicht vorkommen. Auf der Straße sehe ich alte Leute, die gibt es hier, da ich nicht mehr im Stadtzentrum wohne, Schulkinder auf dem Nachhauseweg und Hunde, die ausgeführt werden, auch ein Hausschwein ist dabei; auffällig sind die vielen gerade zugezogenen Studienanfänger und vielleicht auch ein paar Flüchtlinge, aber da bin ich mir nicht sicher und natürlich gibt es auch noch Weddinger Türken, die werden allerdings immer seltener. Der Freundeskreis deutscher Trinker vor dem Kiosk “Tante Emma”, der von einer indischen Familie geführt wird, hält sich seit Jahren einigermaßen stabil, ich nehme an, die Fluktuation ist groß, aber es gibt wohl ausreichend Nachwuchs. Weiterlesen

Wochen 22&23 (Mai/Juni)

Die Wochenchronik registriert die Medienprodukte, mit denen die MICHMASCHINE unablässig gefüttert wird.

  • Fest&Flauschig: Weltkrieg für Einsteiger (Streaming/Spotify) Podcast von Olli Schulz und Jan Böhmermann
  • The Big Short (DVD/Film) von Adam McKay
  • Das freundliche Gesicht der AfD (online/faz.net) TV-Kritik zur Talksendung Anne Will von Frank Lübberding
  • Kleiner Mann, warum? (online/freitag.de) Artikel von Nils Markwardt
  • Vom Leid mit den Leitmedien (online/literaturkritik.de) Rezension von Lothar Struck
  • Victor Klemperer: LTI (Buch)

Der Friseur – Moabit kommt

Wo viele Jahre ein mit Druckerzeugnissen vollgestopfter Zeitungsladen sein am Ende tristes Dasein fristete, ist ein hiper Friseur eingezogen. Junge Menschen in Röhrenhose, mit Kopfbedeckung auch im Hochsommer, Bart (soweit möglich), dick gerandeter Brille, Nasenring sowie Tattoo signalisieren in authentischer Weise, dass man hier zu immensen kreativen Leistungen prädestiniert und bereit ist. Sicher sind alle große Idealisten oder wollen zumindest so erscheinen. Individualismus, unbedingter Wille zur kreativen Gestaltung nicht nur des Haupthaares, sondern des gesammten Lebens, Wettbewerbsfähigkeit und gediegenes Stilempfinden bilden hier keinen Gegensatz, sondern amalgamieren auf höchstem Ich-Level miteinander. Hinzu kommt ein deutlich sichtbarer bildungsbürgerlicher Hintergrund: Alle paar Tage erscheint auf einer Schiefertafel, daselbst mit Kreide beschrieben, ein neues Sprüchlein für die geschätzte Kundschaft, die anscheinend prinzipiell mehrheitlich im Freundeskreis angesiedelt ist. Neoliberale Weisheit wird feil geboten, ewig geltend und von bekannten Klassikern ausgebrütet. Deren Lebensweisheiten waren nicht immer vom Geist des Individualismus resp. Egoismus und des freien Marktes durchdrungen – bei den jungen Barbieren aber gibt es nur das: den Einzelnen mit dem festen Willen zu Erfolg, Leistung, Lifestyle, Selbstverwirklichung, zu Innovation, Einzigartigkeit, Risikobereitschaft, Glück. Wer auf Gesellschaft verweist, also bestehende Ordnungen, Institutionen, Zwänge, ist am falschen Ort. Unangepasstes Angepasst-Sein wird hier geschätzt.

Gesellschaft gibt es nicht. Von sowas reden nur Menschen mit negative Vibes oder Hartz IV-Empfänger. Solange der Zitatenschatz nicht erschöpft ist, wird an der Selbstermächtigung jedes einzelnen Menschen gearbeitet, d.h. vor allem: Grund zu Jammern oder zu Ohnmachtsgefühlen gibt es nicht. Das scheint hier vollends verinnerlichte Selbstverständlichkeit. Wer seine Biographie nicht selbst schreibt bzw. dazu zu schwach ist, hat selber Schuld. – Und wer es immer noch nicht verstanden hat, schaue unter Erfolgszitate.de nach – oder eben auf besagte Schiefertafel. (Nach dem Sinnspruch folgt der Gruß an die werte Kundschaft, immer mit Aufforderungscharakter, etwa: Genießt Euer Wochenende!) Die letzte handgeschriebene Botschaft lautet:

„Auf der Suche nach neuen Inspirationen sind wir mal weg! (Urlaub)

Das Außergewöhnliche geschieht nicht auf glattem, gewöhnlichem Wege (Goethe)

Schöne Zeit Euch!“

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