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Lost in Media

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Stilwerk Moabit

Wenige Meter von meinem Hauseingang entfernt steht seit ein paar Tagen ein modisches Sofa mit einem Zettel dran: “Zum Chillen”. Sicher genau der richtige Ort zum Entspannen im nasskalten Herbst im neuen Szenekiez der Hauptstadt. Das Sofa ist ein Markenprodukt, besteht aus zwei fast quadratisch gehaltenen Flächen, grau-schwarzer Stoff mit großer anthrazitfarbener Sitzfläche, anscheinend makellos. Es nimmt die Hälfte des Gehwegs ein. Aber der Verlust ist ein Gewinn. Wohl nirgendwo in der Stadt wird dem Passanten eine so abgefahrene Möglichkeit zum Relaxen und intensiven Ausspannen geboten. Seit gut drei Jahren ist Moabit der It-Bezirk, also mit steigenden Mieten, Ökoläden, Vintage-Boutiquen, neubürgerlich gediegenen Restaurants und Cafés, die von aufgeschlossenen jungen Männern betrieben werden, Sexappeal und individuelle Ausstrahlung bestimmen das Lebensgefühl. Die Straßen sind bevölkert von Models und Hipstern. Die Stimmung ist urban, die Luft riecht nach Erfolg und Aufbruch. Am Eingang zum U-Bahnhof Turmstraße betteln an beiden Enden der Treppe Migranten. Unten durchsuchen deutsche Wohlstandsbürger, die sich sicher nur etwas dazuverdienen wollen, die Papierkörbe. Die einen werfen weg – die anderen sammeln die noch verwertbaren Reste. Das Prinzip der Nachhaltigkeit setzt sich auf natürlichem Wege durch. Zu Recht beklagen radikale Kritiker der Gesellschaft den Nonsens von Klimagipfeln. Das reale Leben der Großstädter ist über die Fixierung auf solche Symbolveranstaltungen längst hinaus. Man nimmt das eigene Schicksal selbst in die Hand.

So also auch das Sofa. Offenheit und Menschenfreundlichkeit sind nicht nur leeres Gerede. Ein Möbelstück verwandelt sich durch den kreativen Akt des Hinstellens in einen Ort mit kommunikativem Fluidum. Hier wird eben nicht Müll entsorgt, sondern es handelt sich um eine moralisch einwandfreie Geste, eine hippe Aktion, ein Zeichen für mehr Gemeinschaft und Liebe zwischen den Menschen. Ein perfekter Ort für Begegnung, für Freude an guter Gestaltung und Stil wurde geschaffen.

Als ich heute morgen wieder am Sofa vorbei ging, lagen auf den Polstern eine leere Bierflasche und eine Papiertüte. Die Idee lebt also.

Morgen werde ich meinen alten Röhrenfernseher dazustellen mit dem Hinweis auf das allerorten übliche gesellige Tatort-Gucken am Sonntag und eine kleine Anleitung: “Hey, jetzt könnt ihr auch noch cool fernsehen – da ich weiss, wie kreativ wir sind und wie scheiße eine Gesellschaft ist, die ihre Bürger rundum versorgt und bevormundet, habe ich meinen Generator zum Sperrmüll gebracht. Um Strom müsst ihr euch also selbst kümmern. Viel Spaß damit!”

Überall Verzweiflung

Die ARD verabreicht seinen Zuschauern am langen Reformationstag-Wochenende etwas Besonderes. Hans Christian Schmid hat den Vierteiler “Das Verschwinden” inszeniert, mit Julia Jentsch in der Hauptrolle und vielen anderen gut besetzten Nebenpersonen. Eine dunkle fesselnde Geschichte über Familienverhältnisse in einem bayerischen Dorf, Crystal Meth und das Verschwinden einer fast erwachsenen Tochter. – In der FAZ schreibt nun Ursula Scheer am 21.10. eine Kritik zur Miniserie: “Es ist alles zum verzweifeln”. Im Artikel weist sie darauf hin, dass der Film “einen Sog allumfassender Depression” auszulösen beabsichtige und diesen Effekt wohl auch erreiche. Der Zuschauer wird vor dem Fernseher allein gelassen: tief hängende Wolken, kaum Musik, kein Trost, vor allem gibt es “keinen Humor”. Die Protagonisten leiden an innerem Schmerz, Schuld, Verzweiflung, auch Drogen und Gewalt gibt es. Soll man das dem Zuschauer – einmal angenommen, dass es z.B. Drogenprobleme im ländlichen bundesrepublikanischen Alltag gibt – überhaupt zumuten, sie haben ja schließlich nicht für schlechte Laune bezahlt. Frau Scheer meint: Nein. Das Fernsehen ist dazu da, zu unterhalten (wie am Sonnabend vorher: über vier Stunden Schlager mit Flori Silbereisen), die Wirklichkeit zu Verschönen, und wenn dann jemand mal eine anspruchsvolle Informationssendung gleich mit konsumiert, nahezu ohne es zu merken, ist das öffentlich-rechtliche Erfolgsmodell angekommen. Der ideale Gebührenzahler verliert auch nicht die gute Laune, wenn die eigene Tochter vermutlich tot ist oder mit ihren Freundinnen im Crystal-Meth-Milieu unterwegs ist. Jedes Problem kann, mit Humor kombiniert, zur bunten abendlichen Freude werden.

http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/tv-kritik/epische-verzweiflung-die-ard-serie-das-verschwinden-15256142.html

Post Mortem Politics V.

Ein Drittel der Häftlinge in der Justizvollzugsanstalt Plötzensee saß im Dezember 2015 wegen Schwarzfahrens ein (laut Tagesspiegel und Spiegel). Wer innerhalb eines Jahres dreimal wegen “Erschleichung von Beförderungsleistungen” erwischt wird, muss mit einer Anzeige von BVG oder Bahn rechnen. Bundesweit sitzen nach Angaben der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen etwa 5.000 Menschen, verurteilte Schwarzfahrer, im Gefängnis. Jeder Tag in Haft koste pro Gefangenem rund 130 Euro. An einem Tag gebe das Land rund 160.000 Euro dafür aus, dass Menschen inhaftiert seien. Der christdemokratische Justizminister von Nordrhein-Westfalen, Peter Biesenbach, will das Fahren mit Bahnen und Bussen ohne Fahrschein nicht mehr als Straftat einstufen, sondern nur noch als Ordnungswidrigkeit. In Gefängnissen würde es leerer. Widerspruch kommt prompt vom Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV).

http://www.tagesspiegel.de/berlin/entlastung-der-strafverfolgung-schwarzfahren-soll-keine-straftat-mehr-sein/20380492.html

 

Der “große Europäer” Wolfgang Schäuble nimmt Abschied als Minister. Der Ausverkauf Griechenlands als noble Geste deutscher und europäischer Politik lief jedenfalls nicht widerspruchsfrei. Deutschland profitiert unmittelbar von den europäischen Hilfen für Griechenland. Das geht aus einer Antwort des Bundesfinanzministeriums auf eine Anfrage der Grünen hervor. Zinseinnahmen aus Krediten und Anleihekäufen zugunsten Griechenlands haben demnach bislang Gewinne in Höhe von etwa 1,34 Milliarden Euro eingebracht. – Im Rahmen europäischer Solidarität war ursprünglich die (Rück-) Überweisung von Zinsen als “Zahlung an die Hellenische Republik” vorgesehen und so im Bundeshaushalt 2015 verbucht. Solche uneigennützigen Zahlungen hat es aber nie gegeben.

http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/griechenland-deutschland-macht-mit-hilfen-fuer-griechenland-milliardengewinn-1.3582710

 

Endlich werden die Verweigerer des alternativlosen Ausbaus einer durchmotivierten und glücklichen Arbeitsgesellschaft zur Rechenschaft gezogen. Der Staat spart durch das Einbehalten von Hartz-IV-Leistungen Geld ein. In den vergangenen zehn Jahren haben die Jobcenter Hartz-IV-Sanktionen in Höhe von knapp zwei Milliarden Euro verhängt. Die Summe der Gelder, die Hartz-IV-Beziehern nicht ausgezahlt wurden, beträgt von 2007 bis 2016 insgesamt 1,9 Milliarden Euro, wie aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linken-Abgeordneten Sabine Zimmermann hervorgeht. Hartz-IV-Empfänger werden etwa wegen der Verweigerung eines Jobangebots, des Verschweigens von zusätzlichem Einkommen oder der Ablehnung einer Fortbildung sanktioniert.

http://www.n-tv.de/politik/Staat-spart-Milliarden-bei-Hartz-IV-article19901432.html

Keine Wahl

Würden wir nur unseren Alltag zum Maßstab nehmen, ließe sich über die “Gesellschaft” nicht viel mehr sagen, als dass es sie gibt: Die soziale Realität ist, was sie ist, weil sie nunmal ist, wie sie ist. Von Menschen gemachte Verhältnisse so zu betrachten, als seien sie ohne unser zutun gewachsen, nannte der Soziologe Pierre Bourdieu “Naturalisierung”. Tatsächlich ist diese naive Art zu denken viel weniger harmlos, als es zunächst den Anschein hat. Ein paar Beispiele: “Wir produzieren diese Sendungen, weil der Zuschauer sie sehen will” (Fernsehen), “Wenn ich es nicht tue, macht es ein anderer” (Kriminelle), “Wir führen Krieg, um den Frieden zu sichern” (Militär, Regierungen), “Es gibt keine Alternative zu unserer Politik” (Neoliberale), “Der Niedriglohnsektor wurde nicht geschaffen, es gibt ihn einfach” (Olaf Scholz, SPD), und auch sehr beliebt: “So ist der Mensch eben”, also z.B. egoistisch, gewalttätig, kapitalistisch usw., eine Aussage, die generell ausschließen soll, dass “der Mensch” sich ändern könnte. Dabei ist die Rede vom “Mensch” im Allgemeinen schon selbst die allergrößte Naturalisierung. Wer soll das denn eigentlich sein? Wir alle natürlich, die wir Menschen sind, nur eben rigoros eingedampft auf angeblich angeborene, unabänderliche Gemeinheiten, die in jedem von uns stecken sollen. Als Realisten bezeichnen sich gerne diejenigen, die solchen biologistischen Unsinn verbreiten, um sich selbst ihre frustrierte Weltsicht zu erklären oder die eigene Gemeinheit damit zu entschuldigen, dass alle anderen ja auch nicht besser sind. Im Kern dieses Geredes steckt Ideologie. Sie ist ihren Anhängern oft selbst nicht bewusst, da sie sogar in ganz gegensätzlichen Ansichten und Meinungen enthalten sein kann. Es ist die Ideologie des De-Engagements, der Entpolitisierung des eigenen Denkens und Handelns. Dieser “ideologische Realismus”, der mit der Realität nichts gemein hat, besteht darin, die eigene Kraft- und Willenlosigkeit als allgemeines Gesetz aufzufassen und damit jegliche Bestrebung, die darauf hinausläuft, sich selbst zu ändern oder die Gesellschaft, oder überhaupt irgendwie gestaltend aktiv zu werden, für grundsätzlich sinn- und zwecklos zu halten: Wo Natur herrscht, hat Politik nichts zu sagen. Oder nochmal anders: Da sind wir leider machtlos.

Der liberale Zeitgeist scheint vom ideologischen Realismus unberührt zu sein. Die Selbstoptimierer, Startupper, Studierende, junge Familien und auch Arbeitslose, die sich bewerben, selbst verrentete Freizeitgestalter und Grundschüler, die Limonade verkaufen, eigentlich jeder, der überhaupt etwas in dem Glauben tut, damit sein Leben verbessern zu können, scheint beseelt zu sein von einem Idealismus der Tat, also der Überzeugung, dass es selbstverständlich besser ist zu handeln, als nichts zu tun. Dass sich diese Ideologie der Tat und der ideologische Realismus des Desengagements nicht widersprechen müssen, obwohl sie scheinbar für völlig gegensätzliche Haltungen stehen, wird beispielsweise an den oben genannten naturalisierenden Aussagen deutlich: “Es gibt keine Alternative zu unserer Politik”, soll ja gerade nicht bedeuten, dass nichts zu tun wäre, sondern eben nur nichts anderes als bisher schon. “Weiter so” und “Lasst uns mal machen” steckt in dieser Aussage und verbindet Desengagement mit einem Pathos der Tat, indem die Angesprochenen aufgefordert werden, selbst nichts zu tun, und trotzdem daran zu glauben, dass es auf gutem Wege voran geht.
Mit einem bisschen schlechten Willen ließe sich in dieser Verbindung die heutige Grundverfassung des demokratischen Wahlvolkes erkennen. Es sieht sich in der moralischen Pflicht zu wählen und gibt mit dem Wahlzettel, das ist praktisch, auch die Verpflichtung ab, darüber hinaus politisch handeln zu müssen. Für die meisten Wähler sind staatlich organisierte Wahlen das einfachste Mittel, um sich an der Demokratie zu beteiligen. Oft sind sie auch das einzige. Gerade für die ansonsten politisch inaktiven Demokraten sind Wahlen besonders wichtig, da sich ihr Desinteresse mit dem Wählen umstandslos in politische Teilhabe verwandeln lässt. Es ist das Dogma einer eher unpolitischen Demokratieauffassung, sich verpflichtet zu fühlen, wählen gehen zu müssen.

In Vorwahlzeiten wird unablässig darauf hingewiesen, dass es keinen Grund gäbe, nicht zu wählen. Wählen wäre alternativlos. Nichtwählen würde der Demokratie schaden. Möglicherweise gibt es Situationen, in denen das Gegenteil richtig ist. In denen das Wählen nur der Ausdruck eines Unwillens ist, wirklich politisch aktiv zu werden. Neben vielen anderen guten Gründen für das Nichtwählen reicht es vielleicht schon aus, seine Stimme nicht abgeben zu wollen an einen Repräsentanten, sondern sie zu behalten, um sich selbst Gehör zu verschaffen. Es ist vollkommen legitim, nicht für die Vertreter eines Politbetriebs zu stimmen, der sich nach den Wahlen daran macht, für die weitere Entpolitisierung unseres Denkens und Handelns zu sorgen.

Die im Vorfeld der Wahlen geführten Scheindebatten um Kandidaten, Köpfe, Parteien, Programme, Koaltitionen usw. bilden zwar kaum ab, wie Politik wieder demokratisiert, also zugänglich werden könnte für Nichtpolitiker, allerdings zeigen sie, wie unsere Demokratie derzeit organisiert und von Berufspolitikern interpretiert wird: Der Staat als Beute der stärksten Parteien. Als eine hermetisch abgeriegelte Sphäre des Politischen, die nur als flache, unangreifbare Darstellung politischer Realitäten nach außen dringen soll. Diese Vorstellung von Politik wird uns auf vielen verschiedenen Kanälen nahegebracht, sie ist gezielt daraufhin optimiert, Politik ausschließlich als das zu verstehen, was unsere Politiker machen. Auch hierbei handelt es sich um eine Naturalisierung. Sie besagt in etwa: So ist Politik eben. Soll heißen: Nur wer sich darauf einlässt, kann politisch aktiv werden. Indem er wählt oder Parteimitglied wird. Und danke, mehr wird gar nicht verlangt.

ICH GLAUB ES GEHT SCHON WIEDER LOS. Wahlkampf

„Der Schulz ist so hässlich“, sagt meine Freundin, um damit ihre unüberbrückbaren ästhetischen Hürden einer Wahl der SPD zu markieren. Gut leben in Deutschland, so heißt die nahezu allen Parteien gemeinsame Wahlkampfphrase. Probleme waren gestern. Ob ich mir noch einen Diesel kaufe, ist letztlich auch Privatsache. Und Kim Jong-uns Raketen kommen sowieso nicht bis Deutschland. Die Grünen bleiben sich treu und knüpfen mit Gestaltung und Inhalt ihrer Plakate an ihre Gründerzeit an: Wir haben die Welt von unseren Atomkraftwerken geerbt. Stell dir vor, es ist Waldsterben, aber keiner geht hin. (So die grünen Lieblingsparolen von Mely Kiyak). Weiterlesen

Retromanische Episode

Das Gedächtnis ist zwar lückenhaft und es wählt nach subjektiven Kriterien aus, was es behalten möchte, grundsätzlich ließe sich aber alles erinnern, was einmal erlebt wurde. Es gibt Techniken, die dabei helfen, das Vergessen zu verlernen, wie die vergessene Kunst der Mnemonik zum Beispiel oder das Netz, das Internet. Das Netz als technische Erweiterung des Gedächtnisses zu betrachten, wäre allerdings nicht mehr als ein technophiles Fantasma. Zwar ist das Prinzip der Vernetzung grundsätzlich zum Aufbau von Gedächtnisleistungen notwendig und daher mit einigen Funktionen technischer Netzwerke vergleichbar, der wesentliche Unterschied aber liegt nicht in den Modi der Verarbeitung, sondern im Gebrauch; das Gedächtnis erinnert, das Netz behält und wiederholt (oder holt wieder). Dieser formale Unterschied ist für eine bisher unüberbrückbare Differenz zwischen Technik und Organismus verantwortlich: Während im Leben keine Wiederholung möglich ist, ergibt schon die einfachste technische Idee keinen Sinn, ohne die grundsätzliche Möglichkeit, Vorgänge genau reproduzieren zu können.

Nichts Neues entsteht in der Wiederholung, dagegen ist jede Erinnerung etwas Neues. Erinnerungen fügen der erlebten Vergangenheit etwas hinzu, das sie gegenwärtig hält. Wie sich dieses Neue bestimmen oder messen ließe, ist schwer zu sagen. Die passende Maßeinheit wäre wohl die Intensität des Gefühls, welche die Erinnerungen begleitet. Insofern sind Erinnerung und Wiederholung Phänomene, die unterschiedlichen Existenzbereichen angehören: Wiederholungen sind ausschließlich technisch realisierbar und viel exakter als Erinnerungen, aber biographisch ineffizient, weil sie am Maß der Intensität nicht zu unterscheiden sind. Ihnen fehlt es an der dramaturgischen Differenz, die Erinnerungen auszeichnet: Was als wichtig empfunden wird, wird in der Regel eher erinnert als Unwichtiges. Gerade die Gleichmacherei, das alles Behalten und nichts Vergessen der technischen Archive, macht sie strukturell lebensfremd.

Damit ist allerdings nicht gesagt, dass sich Erinnerungen immer auf reale Erlebnisse beziehen müssen. Wir verknüpfen Gefühle auch mit Ereignissen, die wir nie erlebt haben. Wenn wir lesen, Filme sehen oder Beiträgen in sozialen Medien folgen, sind Gefühle nicht suspendiert, weil sie medial vermittelt werden. Manchmal ist gerade das Gegenteil der Fall; erst das Medium schafft den Gefühlsraum, der es erlaubt, sich so zu erfahren, wie es dem eigenen Selbstbild entspricht.
Es macht den besonderen Charakter von Medien aus, Techniken und Menschen so in Beziehung zu setzen, dass sie miteinander kommunizieren können. Daraus ergibt sich (zumindest theoretisch) auch die Möglichkeit, jenseits von Erinnerung und Wiederholung eine dritte Form der Retrospektion zu erfinden. Das wäre eine mediale Chronologie, die es uns möglich macht, aus technisch gespeichertem Material und eigenen Erinnerungen ein Patchwork an realen und medialen Beziehungen zu basteln, die es uns erlauben, die Vergangenheit so zu sehen, als wäre sie in Zukunft veränderbar. Wir kennen solche Umschriften aus der Psychotherapie (aber auch als Gehirnwäsche). Immer geht es darum das Erleben des eigenen Erlebens so zu verändern, dass die eigene Vergangenheit nicht zwanghaft wiederholt werden muss.

Umso erstaunlicher ist es, dass eine von digitalen und visuellen Medien bestimmte Kultur wie unsere unter einer Überlast der Vergangenheit leidet. Offenbar unfähig, Neues hervorzubringen, werden in den Massenmedien Wiederholungen produziert, die sich in Erinnerungen verwandeln sollen. Der Zuschauer (oder Hörer) soll sich an sich selbst erinnern, wie (glücklich) er war, als er eine alte TV-Serie, einen Oldie oder Film zum ersten Mal sah oder hörte. Tatsächlich stellt sich aber das erschlagende Gefühl verflossener Zeit ein. Die dabei erzeugte Intensität läuft in depressive Verstimmungen aus, da der Gedanke “einmal jung gewesen zu sein” nicht auf die Zukunft hin öffnet, sondern in der Vergangenheit verharrt. Das Versprechen der Popkultur, die Langeweile der Gegenwart aufzubrechen und Biographien zu verändern, indem sie überhaupt aufzeigt, dass Menschen sich verändern können, wenn sie ihren Wünschen folgen, dieses Versprechen scheint nicht mehr zu gelten, seit popkulturelle Retromoden notwendige Entwicklungen blockieren, statt sie anzustoßen. Immer neue Schleifen von Wiederholungen sind nicht geeignet, die Zukunft zu erfinden.
Die Popkultur befindet sich heute in dem seltsamen Zustand der Gleichzeitigkeit ihrer gesamten Geschichte; alles was war, ist wieder da, ohne dass zu verstehen wäre, was das eigentlich soll. Diese manische Phase der Wiederholung schlägt langsam um in eine kulturdepressive Episode: Pop scheint die Kraft verloren zu haben, unsere Kultur erneuern zu können. Das ist immerhin neu … aber auch dystopisch.
In der Vergangenheit haben Subkulturen wie Punk oder zuletzt Hiphop gerade aufgrund ihrer radikalen Ablehnung der vorherrschenden Kultur den Effekt gehabt, positive Energie freizusetzen, die dann zur kreativen Zerstörung des institutionalisierten Mainstreams führte. Niemand konnte das Alte noch hören oder sehen wie vorher, jetzt gab es eine Störung, ein Gegenbild zu der konservativen Behauptung, dass die Realität unumstößlich sei. Kein anderer Slogan als das “No Future” der Punks war jemals besser geeignet, um das paradoxe und dialektische Verhältnis von Pop zur Gegenwart aufzuzeigen: In der totalen Verneinung der Hoffnung auf eine bessere Zukunft lag zugleich die Kraft, Wut zu erzeugen, eine starke Intensität, die in der Lage ist, den alten Krempel abzuräumen und Platz zu schaffen für etwas Anderes. Genau das ist die notwendige Voraussetzung, um Neues zu schaffen, also den Ausblick auf eine andere Zukunft zu ermöglichen.
Unsere Gegenwart erschöpft sich dagegen in leidenschaftslosen Wiedererzählungen vergangener Moden, die zu schwach sind, um sich selbst abzuschaffen. Es bedürfte einer Möglichkeit des Sich-Selbst-Fremdwerdes, alienation, einer neuen Seltsamkeit, die die konformistische Normalität von verinnerlichten Werbe- und Idealbildern durchbricht. Obwohl die Demokratisierung der technischen Medien heute Möglichkeiten bieten würde, die Selbstfiktionalisierung und Neuerfindung leicht zu machen, bringen sie eher so etwas wie soziale Entropie hervor. Der Anpassungsdruck ist durch die Allgegenwart der Medien gestiegen. Und der Wunsch “mal ganz anders zu sein” ist derzeit selbst bei jungen Leuten kaum zu erkennen. Statt Ausbrüche aus der ökonomischen und biografischen Vernunft zu fördern, erhöhen die sozialen und die Massenmedien den Druck auf alle Nutzer ständig präsent zu sein und machen Anwesenheit zum Selbstzweck, weil Klickraten und Quoten das Geschäft betreiben. Allgemein gilt als sicher, dass die Aufmerksamkeitsspanne der Nutzer nur gering ist und weiter sinkt aufgrund der ständigen Überfütterung. Alle ausgesandten Botschaften haben sich deshalb Regeln zu unterwerfen, die als Gleichmacherei nicht ausreichend beschrieben wären. Es handelt sich vielmehr um eine Regression von Kommunikation, die Gedankenlosigkeit fördert, und auf Kürze, sofortiges und anstrengungsloses Verstehen und Wiederholung setzt. Was wir zu sehen und hören bekommen, wird sich immer gleicher (und damit technischer). Nur die Möglichkeiten mehr davon zu konsumieren, nehmen ständig zu. Vielleicht befinden wir uns in einer Phase des technischen Denkens, die uns alle erfolgreich damit infiziert hat, wie Roboter zu träumen: Wir wären gern wie alle anderen, um richtige Menschen zu sein.

Post Mortem Politics IV

Wie gern hätte er noch seinen Freund Viktor Orban (Kohl über Orban) an seinem Grab gewusst. Immerhin hatte dieser ihn im April 2016 in Oggersheim besucht. Kohl hatte im Vorwort zur ungarischen Ausgabe seines Buches “Aus Sorge um Europa” deutlich die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung 2015 kritisiert. ”Kulturelle und sicherheitspolitische Interessen” sowie der christlich-jüdische Glauben seien in Gefahr. Weitere “Verunsicherungen bei den Menschen” dürften nicht stattfinden: “Es geht um unsere Existenz”. – Aber nein: Helmut Kohl war ein großer Europäer. So heißt es seit Tagen überall in der politischen Berichterstattung. Wobei es sich hier wohl weniger um Kohl-Blasphemie handelt, als um die Eingemeindung des Verstorbenen in das große WIR, d.h. Grenzen dicht, Austeritätspolitik und grenzenloses Wachstum statt irgendeiner Änderung des politischen Handelns.

http://www.tagesspiegel.de/politik/helmut-kohl-loesung-der-fluechtlingskrise-liegt-nicht-in-europa/13456870.html

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Todesangst und Metaphysik

Vor einigen Wochen führte ich ein ungewöhnliches Telefongespräch mit meiner Mutter. Ungewöhnlich schon deswegen, weil es sonst fast rituell um unwesentliche Dinge des Alltags geht. Kaum verborgen äußerte meine Mutter mir gegenüber ihre Todesangst, vor allem im fortwährenden Bedauern über die fehlende Religiosität ihrer Kinder. Was nämlich zur Folge hätte, dass wir uns dann nach unserem Ableben nicht wiedersähen.

Da die Religiosität meiner Mutter von Ängsten gespeist wird, die das sonst verbreitete Maß wohl deutlich übersteigen und sich von daher ein periodisch eruptiv ausbrechender fundamentalistischer Glaube entwickelt hat, heißt das für sie: im Unterschied zu ihr (falls der Herr nicht noch eine ungesühnte Schuld bestrafen muss) kommen ihre Kinder nicht in den Himmel, sondern leider in die Hölle. Wobei nicht das unweigerliche Leiden der Nachkommen das Problem ist, sondern die ewige Fortsetzung des irdischen Daseins: Einsamkeit, Angst, Depression, Unerlöstheit.

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Fakten Fake

Es gibt Lügen, die nie auffliegen. Weil sie zu geschickt konstruiert sind oder weil sie nebensächlich sind und schnell wieder vergessen werden; einige wollen aber auch nicht aufgedeckt werden, einfach deshalb, weil sie gern geglaubt werden. Fake News gehören zu dieser letzten Kategorie: Sie wollen geglaubt werden, obwohl sie meistens leicht als Lügen zu entlarven wären. Es reicht nicht, Fake News mit Fakten zu begegnen, um sie zu entkräften. Fakten richten gegen Glauben nichts aus. Um die Wirksamkeit von Fake News zu verstehen, könnte es helfen, sie nicht als plumpe Lügen zu betrachten, sondern als Aussagen, die ein Bedürfnis bedienen, das mit Fakten nicht gestillt werden kann.

Eine genauere Definition von Fake News müsste eine allgemeine Bestimmung ihres Zwecks enthalten, der nicht nur in gezielter Desinformation bestehen kann, weil dann immer noch die Frage offen bliebe, wozu die Desinformation dienen soll. Die meisten politischen Kommentatoren der “Qualitätsmedien” liefern allerdings diese flache Erklärung, als wäre sie bereits eine Antwort auf die Frage, wie Fake News wirken. Dass es sich dabei um keine Erklärung der Zwecke und Wirkungen handelt, sondern um einen Vorwand, die Grenze zwischen Fakt und Fake umzuwandeln in eine Aussage darüber, wer Freund und wer Feind ist, scheint oft nicht einmal denen klar zu sein, die in diesem Sinne argumentieren. Statt Wirkungsforschung zu betreiben, die auch die oft völlig verquere und politisch motivierte eigene Berichterstattung miteinbeziehen müsste, werden Schuldige gesucht und meistens auch gefunden: Die Russen, AfD, Verschwörungstheoretiker, Antisemiten usw. Hinter den bereitwilligen Multiplikatoren von Hassbotschaften, Fake News und wirren Verschwörungthesen werden fast immer größere Mächte am Werk gesehen. Dass es sich bei diesem Erklärungsmuster selbst um Verschwörungsdenken handelt – das heißt übrigens nicht, dass es nicht trotzdem zutreffen kann -, wird immer dann deutlich, wenn echte Beweise für das Wirken der Hintermänner ausbleiben, was fast immer der Fall ist. Der Mangel an Beweisen wird dann mit dem Hinweis plausibel gemacht, dass das Netz ein Dschungel sei, undurchschaubar, verworren und – darauf kommt es an: unzuverlässig. Die eigenen unbewiesenen Behauptungen erfüllen in dieser Argumentationslogik paradoxerweise die Rolle der Beglaubigung des eigenen Sprechens: Die sozialen Medien werden insgesamt als dermaßen unzurechnungsfähige Quelle dargestellt, dass selbst anerkannte Wahrheitsinstanzen wie die “Qualitätsmedien” ihre Aussagen über Fake News nicht beweisen können. Dass sie ebenfalls regelmäßig Fake News produzieren, spielt an diesem Punkt keine Rolle mehr, da diese Auffassung dem Selbstbild professioneller Journalisten widerspricht. In ihrer Selbstwahrnehmung kommt es zwar vor, dass Fehler gemacht werden, in der großen Mehrzahl halten sie ihre Hervorbringungen aber für gelungene journalistische Darstellungen zweifelsfreier Fakten.

Auf diesem Niveau der Selbstreflexion ist es kein Wunder, dass immer mehr Vertreter der zentralen Meinungsmachermedien davon reden, mit Faktenchecks die alte Wahrheitsordnung wiederherstellen zu wollen. Diese simple Idee ist nicht nur strikt realitätswidrig, schließlich befinden wir uns auf dem Feld massenmedialer Produktion, nicht im Bereich naturwissenschaftlicher Gesetze, sie zeigt darüber hinaus, wie wenig der Ursprung von Fake News verstanden wird. Der liegt nämlich nicht hauptsächlich in der Verantwortung geheimer und böswilliger Mächte, wie suggeriert wird, sondern im selbstverschuldeten Glaubwürdigkeitsverlust der etablierten Medien. Dieser Verlust wird zwar erkannt und teilweise auch zugegeben, allerdings wird er offensichtlich als Folge der massenhaften Nutzung sozialer Medien betrachtet, was einer Verwechslung von Ursache und Wirkung nahekommt. Dass der Verlust des Meinungsmonopols nicht damit einhergehen muss, auch an Glaubwürdigkeit zu verlieren, wird von den Verantwortlichen in Presse und Fernsehen scheinbar übersehen. Intern wird eine Durchhaltemoral gepflegt, die darauf hinausläuft, sich nicht irre machen zu lassen von Lügenpresse-Vorwürfen und genauso fakten- und wahrheitsorientiert weiterzuberichten wie eh und je.

Natürlich ist es gut zu verstehen, dass sich der einzelne Redakteur oder Autor in Diensten einer Zeitung oder eines Senders nicht vorwerfen lassen will, bewußt sein Publikum zu belügen. Das zurückzuweisen, ist ganz richtig, und ebenso wie der inzwischen fast selbstverständliche Hinweis darauf, dass politische Einflussnahme fast nie mittels direkter Ansprache durch Politiker erfolgt, sollte es öffentlich immer wieder gesagt werden, um plattem Verschwörungsdenken etwas entgegenzusetzen. Aber man sollte von Journalisten auch erwarten können, dass sie ihre Situierung innerhalb struktureller Zwänge des eigenen Arbeitsumfeldes reflektieren. Auch das müsste öffentlich geschehen, findet aber nicht statt. Oder falls doch, abseits des Mainstreams und hinter verschlossenen Türen. Gründe für dieses Versäumnis gibt es viele, neben übergroßer Eitelkeit und der intellektuellen Unfähigkeit, Strukturen verstehen zu können, gibt es selbstverständlich auch einen politischen Unwillen abweichende Positionen prominent zu vertreten. Das ergibt sich konsequenter Weise aus den hierarchischen Strukturen, die in Medienunternehmen nahezu idealtypisch ausgebildet sind und die persönlichen Aufstieg nur bei einem gewissen Maß politischen Wohlverhaltens erlauben. Individuelle Eigenart und persönliches Engagement werden in Medienbetrieben – ähnlich wie in Parteien – nur soweit gefördert und geschätzt bis sie die Grenzen des inneren Mainstreams, das heißt des intern akzeptierten Meinungsspektrums, zu überschreiten drohen. Das scheint zunächst nicht weiter problematisch zu sein, da die gesamte Medienlandschaft ganz unterschiedliche Wege zur Meinungsbildung zulässt. Nur ist es eben so, dass die Formate mit den größten Reichweiten sich immer ähnlicher werden und nur noch einen bestimmten mittleren Bereich der Meinungen repräsentieren (auch hier ist eine ähnliche Entwicklung wie bei den etablierten Parteien zu beobachten). Die Medienvielfalt, die als materieller Ausdruck des Rechts auf Meinungsfreiheit gelten kann, wird stets durch marktypische Monopolisierung gefährdet, weit problematischer ist aber, dass die reale Vielfalt an veröffentlichter Meinung keineswegs abbildet, wie grundsätzlich unterschiedlich die Ansichten zu ein und derselben politischen Frage sein können. Dafür sind die Mainstreammedien in der öffentlichen Wahrnehmung einfach zu dominant.

Insofern sind die massenhaften politischen Artikulationen in den sozialen Medien jenseits ihrer jeweiligen Inhalte, die nicht selten skurril, dumm und hassverzerrt daherkommen, immer auch Ausdruck eines starken Unbehagens, das die Konzentration von Macht innerhalb einer dichter werdenden Vernetzung von Medien, Politik und Wirtschaft betrifft. Als solche sind sie ernstzunehmen und nicht als hate speech und Fake News abzutun. Gegen dieses Unbehagen sind Faktenchecks genau das ungeeignetste Mittel, da sie auf Basis der Behauptung Lügen richtig stellen zu wollen, ein Machtgebaren fortschreiben, das gerade ursächlich dafür verantwortlich ist, dass Fake News bereitwillig geglaubt und weiter verbreitet werden. Tatsächlich können Lügen vor diesem Hintergrund ihren Charakter wechseln und wahrgenommen werden, als das, was sie nicht sind, nämlich als wahre Aussagen, und damit einer Renitenz Stimme verleihen, die sonst ungehört bliebe. Das zu verstehen, könnte auch Journalisten helfen, ihr ungläubiges Staunen zu überwinden, wenn die offensichtlichsten Lügner zu Helden verklärt werden, während sie selbst – und ihre vielleicht aufrichtigen Absichten – als Manifestationen der “Lügenpresse” diskreditiert werden.

Post Mortem Politics III

April 2017

 

Die SPD übt sich in Glückseligkeit. Die FAZ präsentiert wunschgemäß die Partei des Martin Schulz schon wieder im Abwind. Jedenfalls lässt Schulz bis heute eine inhaltliche Präzisierung seiner Gerechtigkeitskampagne vermissen. Im Gegenteil. Einem Ende der Sanktionen gegen Hartz-IV-Empfänger erteilte er in der Rheinischen Post vom 17.3. eine Absage. “Bei den Sanktionen geht es ja nicht um Schikanen”. Wenn Leistungsempfänger ihren Auflagen nicht nachkommen, soll es bei den Sanktionen bleiben. Eine Berliner Arbeitsagentur und ein Jobcenter in Berlin haben jüngst eine schwer depressive Frau für gesund erklärt; sie solle doch ihr “Restleistungsvermögen” zur Verfügung stellen, sprich: Vollzeit arbeiten. Ihr wurden die amtlichen Zahlungen gestrichen. http://www.berliner-zeitung.de/berlin/psychische-erkankungen-arbeitsagentur-berlin-erklaert-schwer-depressive-frau-fuer-gesund-26296258

Weit über 400.000 Personen sind 2016 von Jobcentern teils mehrfach sanktioniert worden. Jeder dritte Widerspruchsführer und fast jeder zweite Kläger bekam nach einem Prozess sein Geld ganz oder teilweise zurück. Schulz will daran nichts ändern. Selbst die Erhöhung des Schonvermögens für Hartzempfänger ist für ihn kein Thema.

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