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Derealisationen (3)

Es ist doch eine ziemliche abwegige Idee: Dass der Vater schützend vor dem Sohn stehe und dessen Unbewußtes gegen die Angst vor der eigenen Sterblichkeit abschirmt (siehe DR 2). Das Gegenteil ist wohl eher der Fall. Der Vater bedroht die kleine, symbiotische Welt des Muttersohns. Als Beschützer hat der „gute“ Vater das Kind vor allem vor dem Vater selbst zu retten.

Die meisten Väter, die ich kenne, sind selbst nicht erwachsen. Trotzdem bestehen sie darauf, ihren Kindern die Realität beizubringen. In Form von Regeln und unnützen Geschenken. Als wären Männer, die Väter sind, noch weniger in der Lage, über sich selbst nachzudenken. Und über Gesellschaft ja sowieso nicht. Für Kritik sind sie zu beschäftigt. Mit Erziehung. Und Arbeit. Es ist ein trauriger Witz, wie sie mit ihrem Realitätssinn, den man auch Sorge nennen kann, erst selbst zu Idioten werden und dann ihre Kinder zu welchen machen. Da hat sich die gesellschaftliche Disziplinartechnik „Angst“ perfekt in die Biologie eingeklinkt: Sobald Kinder da sind, dreht sich alles nur noch um Versorgung – die muss von Anfang bis Ende und möglichst sofort gesichert sein. Beste Babyausstattung, frühkindliche Ausbildung (Babyyoga, Geige, Sport, Fremdsprachen und alles, was das enorm plastische Hirn verarbeiten kann, weil später ist der Zug schon abgefahren), private Schulen, Uni, Beruf, Rente, Pflege, vorfinanzierte Beerdigung.

Kann es sein, dass eigene Kinder, so wie sie in unserer Gesellschaft gerade instrumentalisiert werden (nämlich als kleine Konsumgötter, die nur das Beste verdient haben), das einfachste Mittel sind, um Menschen zu Reaktionären zu machen? Es braucht jedenfalls großen Mut, für das eigene Kind nicht „das Beste“ zu wollen. Davor steht die Erkenntnis, dass das derzeit Beste nichts anderes ist, als eine Einübung in Konformität. Statt vor Schreck aufzuschreien, nicken die Eltern, die ich kenne, bei diesen Aussichten beruhigt ein. Hauptsache das Kind ist versorgt. Es sind ja unsichere Zeiten.

Derealisationen (2)

Ich stieß beim unkonzentrierten Lesen auf einen Absatz, in dem die Rede war von „ontologischer Angst“, und ich blieb an dieser Formulierung hängen, weil dieser philosophische Jargon etwas herausfiel aus dem Text, und ich fragte mich, warum sagt er nicht einfach: „Todesangst“. Ich las den Absatz nochmal und der beste Grund, den ich für diese Formulierung fand, war der, dass sie mich beim Lesen stolpern ließ und darauf aufmerksam machte, dass an dieser Stelle ein Gedanke entwickelt wurde, der nicht einfach überlesen werden sollte: Die „ontologische Angst“ nämlich sei für den Sohn mit dem Tod des Vaters verbunden, der, wenn er denn eingetreten ist, nicht mehr vor dem eigenen Ableben stehen würde, und der Sohn müsste nun quasi dem Tod direkt ins Auge blicken und dabei erkennen: Ich bin als nächster dran.

Vater tot, Sohn, Tod.

Alles verschwindet, nur die psychoanalytische Überhöhung der Vaterrolle nicht. Und die Tochter hat offenbar andere Probleme.

Derealisationen (1)

Ich dachte darüber nach, was sich eigentlich verändert hatte. Jedenfalls gab ich mich ganz dem Alltag hin – bloß nicht so oft an meine toten Freunde denken – und war dabei umgeben von den vielen kleinen Illusionen, die sich abmühen, das echte Sterben symbolisch zu überbieten: Filme, Spiele, Serien, schöne Schuhe und vieles andere, was sich kaufen lässt, Alkohol, Reisen und so weiter. Und nicht Nachdenken. Trotzdem lief alles weiter wie bisher.
Das war wohl eine Sackgasse.

Besser wäre es vielleicht, zwar einfach weiterzumachen, aber mit einem kleinen „Spin“, der das Selbstgespräch (über das irgendwie zu lebende Leben) von innen nach außen dreht. Wie soll das gehen? Für mich: Erstmal beginnend mit kleinen Notizen (Derealisationen), die nichts klären, sondern mit dem fahrigen Gedankenstrom in die eine, dann in die andere Richtung treiben.

Vielleicht hilft ein bisschen Animismus – „Der Animismus stehe in Beziehung zum Traumerleben, in dem die Grenzen des individuellen Bewusstseins gegenüber der Außenwelt aufgehoben seien und das Gefühl einer ursprünglichen Einheit und mystischen Verbundenheit, ja sogar einer Harmonie zwischen Psyche und Kosmos bestehe.“ (Wikipedia)

Seit kurzem sehe ich mich selbst auf der Zielgerade. Ohne Ziel natürlich. Ob das depressiv oder hellsichtig ist, wird sich ja bald zeigen. Die Zukunft schrumpft Tag für Tag. Was übrig bleibt, sollte möglichst nicht vertan werden. Wie verschwende ich die knappe Zeit am besten, so dass ich nicht ständig das Gefühl habe, es zu versauen. Verschwendung? Ja, was sonst, aber irgendwie auf höherem Niveau.

Das geht sicher nicht einfach so. Dem steht der Egomanismus (Ggs. von Animismus) entgegen. Schritt 1 zur Linderung: sich selbst fremd werden. Derealisieren.

„Derealisation (oder präziser Derealisationserleben) bezeichnet eine zeitweilige oder dauerhafte abnorme oder verfremdete Wahrnehmung der Umwelt (etwa von Um­gebung, Per­sonen und Gegenstän­den). Die Umwelt scheint dabei häufig als Ganzes plötzlich unvertraut, auch wenn jedes Detail problemlos wiedererkannt und eingeordnet werden kann. Derealisation steht in enger Beziehung zum Depersonalisationserleben, bei dem die eigene Person als fremd empfunden wird.“ (Wikipedia)

Zu den Vielen gehen (lat. „ad plures ire“ für sterben)

Als Kind war ich begeistert von Flugzeugen. Ich fand die Dinger schön und das Abenteuer reizte mich. Die Technik hat mich nie interessiert. Später bekam ich dann Angst vorm Fliegen. Alle Flugzeuge, die ich je betreten habe, waren ziemlich hässlich, jedenfalls wenn man genauer hinsah: Weiße Rümpfe mit bunten Streifen und Schmutzschlieren und Rost, von den schäbigen Kabinenausstattungen ganz zu schweigen, Schalensitze aus Plastik, überall nur Kunststoff. Sie hatten natürlich nicht die geringste Ähnlichkeit mit den fliegenden Silberpfeilen aus der Pionierzeit der Luftfahrt, in die ich mich damals lesend hinein fantasierte. Beeindruckt von den vorsintflutlichen Maschinen und fasziniert von den Piloten, die auf verblichenen Fotos in seltsamen Hosen, schicken Jacken und Lederkappen neben ihren Fluggeräten posierten, hatte ich mir das Fliegen immer wie eine persönliche Heldentat vorgestellt.
Schon vor meinem ersten Flug, ich war so 10 Jahre alt und mit Papa und meinem Bruder auf dem Weg nach Italien, kamen mir erste Zweifel. Nichts deutete daraufhin, dass ein Abenteuer bevorstand, die anderen Leute am Check-In freuten sich nicht, sie hatten auch keine Angst, sie waren einfach an das Fliegen gewöhnt. Auf dem Flughafen in Neapel war es – obwohl ich die Alpen und sonnige Wolkengebirge von oben gesehen hatte – dann vorbei. Nicht, dass es mir damals klar gewesen wäre, aber meine Geschichte der Luftfahrt endete bereits nach diesem einen Flug. Noch am selben Tag stand ich im Hafen von Neapel und staunte über die kleinen Fischerboote und fand die Fischer ganz toll, die ruhig ihre Netze flickten, wo sie doch gerade draußen auf dem Meer ihr Leben riskiert hatten. Ich wollte dann Taucher werden. Unten herum schweben bei den Fischen, und las die Bücher von Jacques Cousteau und sammelte Klebebildchen für das Hans-Hass-Album “Vorstoß in die Tiefe”. Das Sammelalbum und die Bilder dafür wurden an Esso-Tankstellen verkauft, die zum Ölkonzern ExxonMobile gehörten. Vielleicht war der Graben zwischen Umweltschützern und Ölkonzernen damals noch nicht so tief, heute ist Exxon vor allem bekannt für die katastrophalsten Tankerunglücke, die die Welt gesehen hat.
Und Hans Hass ist tot (16. Juni 2013).

“Der Traum vom Fliegen” ist, glaube ich, immer so eine Kindersache gewesen. Solange er nicht wahr geworden war, haben ihn manche der großen Jungs und Mädchen weiter geträumt. Das ist natürlich vorbei. Wenn die Industrie etwas gründlich zerstört hat, ist es – neben der Natur – die Möglichkeit vom Unmöglichen zu träumen. Sie macht ja früher oder später alles möglich. Und zwar für jeden von uns.
Nebenbei wurde ihr alles geopfert, was wirklich wertvoll ist: Menschen, Landschaften, Dörfer und Städte, das Meer und vor allem das, was man vielleicht das “Soziale” nennen kann: die nichtökonomischen Beziehungen, die Gesellschaft erst erträglich machen.

Ob es früher besser war? Das interessiert mich so wenig wie Flugzeugtechnik. Jetzt jedenfalls ist es nicht gut und nach der Zersetzung der natürlichen Lebensgrundlagen verbreitet sich vor allem Angst. Keine kindliche Angst vor Monstern, eine erwachsene, die sich überall einschleichen und alles besetzen kann und die zum eigentlichen Lebensgefühl wird, ohne ihre Ursachen zu verraten.
Jeder hat eine Therapie nötig. Und die Psychoindustrie hält für jede Angst passende Angebote bereit: Flugangst kann man selbstverständlich auch therapieren.

Bei mir ist die Flugangst mit den Jahren einfach so verschwunden, wie auch meine kindliche Leidenschaft für’s Fliegen verschwunden ist. “Verschwunden” trifft nicht ganz zu, sie wurde ersetzt: Für die Angst vor dem Sterben brauche ich heute keine Flugzeuge mehr. Sie kommt jetzt zu mir durch den Tod der Menschen, die ich geliebt habe. Sie beginnen langsam auszusterben.
Auch der Wunsch zu fliegen, ist nicht einfach verschwunden. So wie ich damals davon geträumt habe, wirklich im Schlaf geträumt habe, abzuheben, zu schweben und höher zu steigen und mit einem unbeschreiblich aufregenden Gefühl über meine Stadt und immer weiter zu fliegen, so träume ich heute davon, meine Toten wiederzutreffen. Nichts wünsche ich mir mehr und nichts ist “kindischer”, also unmöglicher, als das.
Noch ist keine Industrie in Sicht, die diesen brennenden Wunsch erfüllen könnte.  Es bleibt uns nur selbst zu den Toten zu gehen, dorthin, wo sie mit Sicherheit nicht sind, wo sie sich aber finden lassen, in den Träumen und Wünschen, die eben nicht von einer Realität besänftigt werden, die öde und fertig industrialisiert ist. Die Toten sind da, wo wir sie haben wollen. Mit einer Ausnahme: Sie sind nicht mehr unter uns Lebenden.
Diese eine Ausnahme, die nicht irgendeine, sondern die entscheidende Ausnahme ist, muss man lernen auszuhalten. Irgendwie. Was es bedeutet, damit nicht zurecht zu kommen, kann man an den vielen Zynikern sehen, die das Leben selbst nicht zu schätzen wissen, weil es zu schmerzhaft ist. Zynisch ist es, alles Lebenswerte zu entwerten, weil es sterben wird.

Wer nicht zu früh stirbt, kommt irgendwann an den Punkt, an dem sich die eigenen Kreise, die bis dahin größer und größer wurden, wieder zusammenziehen. Die Möglichkeiten nehmen nicht mehr zu, sie nehmen plötzlich ab. Besonders schmerzhaft sichtbar wird das, wenn Freunde und Verwandte sterben, mit denen man eng verbunden war. Ein Teil des eigenen Lebens verschwindet mit ihnen und wird ersetzt … ja, durch was? … durch Traurigkeit und Erinnerungen? Das ist schwer auszuhalten.
Es ist schon keine geringe Anstrengung, die Toten nicht dafür zu verachten, dass sie gestorben sind. Dafür, dass sie uns zurücklassen mit Schmerzen, die sie uns als Lebende nicht zufügen konnten. Die Toten machen das eigene Leben schwerer und schwerer. Davor keine Angst zu haben, ist ja fast nicht möglich. Für diejenigen, die nicht vergessen wollen, gibt es keine andere Möglichkeit, als das zu ertragen.

 

Für Stefan und Bakri.

„Der Mensch ist ein System von Begierden, das durch ein System von Ängsten temperiert wird.“

Paul Valéry, Cahiers

Bombodrom

Die Bombe ist ein unfassbares Monster, es wäre besser, es gäbe sie nicht. Aber was wäre dann: Metaphysik statt Physik?

Meine allgemeine Verfassung, oder wie nennt man diesen Zustand, der irgendwann nicht mehr weggeht, der dann die sogenannte “Persönlichkeit” sein soll, mit der man fortan klarkommen muss, etwa so wie mit der Akne, die ich bis dahin für ein großes Problem gehalten hatte, dieses Ding also setzte sich zusammen oder wurde von Grund auf umkrempelt, ich muss sagen, eigentlich weiß ich nicht, wie das genau ablief, dieses Ding entstand in einer Zeit, die – von heute aus gesehen – ziemlich normal war, würde ich sagen und die mir weniger irre vorkam, denn das damalige pubertär-katastrophische Grundgefühl war sowieso eingebettet in einen zeitgeistigen Alarmismus, der mir, so sah ich das jedenfalls, das Recht gab, spätestens mit 14, alle Hoffnungen auf ein langes, gesundes – GLÜCKLICHES – Leben frühzeitig zu begraben: Atomtod, Waldsterben – zuerst der Wald, dann DER MENSCH -, ja, der saure Regen, keine Ahnung, was aus dem geworden ist, der Wald steht aber noch, soweit ich weiß; das Fischsterben, wir durften als Kinder keinen Zeh in die Elbe stecken, und dann der Nato-Doppelbeschluss, das endgültige Ende, das sichere Todesurteil, Fegefeuer, … oder wie man damals noch sagte: atomarer Holocaust.

Mir jedenfalls machte das keine Angst. Es raubte mir nur jeden Lebensmut. Und: Ich wartete jeden Tag, Woche für Woche, Monate, letztlich viele Jahre darauf, dass es jetzt endlich mal passiert, dass die Sorgen ein Ende hätten, das einzig mögliche Ende… ich sah mich als Brandschatten an einer Ruinenmauer enden, wie ich es in einem Film über Hiroshima gesehen hatte: schwarze Umrisse menschlicher Körper, geisterhafte Negative, festgehalten vom atomaren Blitz im Moment des Verglühens. Damals kannte ich auch schon die Fotografie der verbrannten nackten Kinder, die weinend vor dem Napalm durch’s Reisfeld fliehen und auch die Filmaufnahme, die einen vietnamesischen Offizier zeigt, der einen vor ihm knienden Soldaten durch Kopfschuss tötet.

Im Berufsinformationszentrum sollte ich mir einen Beruf aussuchen. Ich dachte an Fotograf – man nahm wohl an, ich hätte nicht verstanden: Einen richtigen Beruf bitte, keine Traumtänzerei. Außerdem, die schlechten Augen, schon zwei Operationen, das schließe sich selbstverständlich aus. Gut, dann eben kein Beruf. War sowieso nicht meine Idee, arbeiten zu müssen. Wozu auch? Um den Atompilz zu fotografieren?
In den Schulstunden kritzelte ich kleine Notizhefte voll, ich konnte nicht gut zeichnen, aber der Atompilz war einfach, und der Rest der Seite wurde mit dem Anarcho A aufgefüllt, das passte gut zusammen und gab meine gesamte Weltanschauung wieder, mehr war nicht nötig, und nach einer Stunde wusste ich immerhin, was ich getan hatte: Die Welt war mir endlich scheißegal.

“Wach endlich auf”, sagte mein Klassenlehrer, der später für die SPD im Hamburger Senat saß. Halt die Schnauze, hätte ich gern geantwortet, und dass er die Finger von den Mädchen lassen soll. Bei den Hübschen, die schon entwickelt waren, griff er gern mit einem Finger in der Ausschnitt, zog ihnen das Shirt ein bisschen vom Körper ab und glotzte von oben auf die Tittchen, wie er das nannte. Er schämte sich nicht, er machte das auch in Gegenwart anderer Schüler, hauptsächlich der Jungs, denke ich, denen er damit vielleicht auch zeigen wollte, was ein Mann sich so alles erlauben darf.
“Wach auf”, ich hatte noch nie nackte Brüste gesehen, nur auf Bildern, ich hatte ihn schlagen wollen für sein schäbiges Verhalten, und wollte weiterschlafen, wenn es das bedeuten sollte, wach zu sein: ein grober, widerlicher Mensch.

Aufwachen also. Realistisch sein. Er hätte auch sagen können: “Werd mal Erwachsen”. Alles nicht mehr so schlimm finden; sich ein dickes Fell zulegen; die ständige Empörung ablegen, nicht immer gleich alles Skandalisieren; als Erwachsener weiß man, das gehört dazu; mit der Vernunft lässt sich erklären, wie es dazu kommt, nicht im Einzelnen natürlich, da bleibt alles unverständlich, sie ist nur die Instanz, die uns damit beruhigen kann, nicht mehr verstehen zu wollen: Verstehen wollen – ist unvernünftig.
Gewalt gehört dazu, Sex gehört dazu, Leid, Betäubung, Zerstörung, Schmerzen, der ganze Wahnsinn derjenigen, die sich für Realisten halten, die wach sind, und die sich nehmen, was sie kriegen können, Machtmissbrauch gehört dazu, und die auf ihr Recht bestehen, GLÜCKLICH sein zu wollen.
Ich verabscheue diesen Realismus.

Ziviler Gehorsam

Etwas stimmte nicht. Ich schlief noch, oder wurde gerade wach, jedenfalls hatte ich schon schlechte Laune, bevor ich wieder ganz bei Bewusstsein war. Der Lärm war höllisch. Ein Hubschrauber stand über dem Haus, ich riss vor Schreck die Augen auf.
Gestern war es heiß gewesen und es war noch immer warm und ein bisschen feucht. Durch das offene Fenster drang der Geruch von Gras ins Zimmer, frisch gemähtem Gras, und der Höllenlärm schwang sich von einer Wand zur anderen durch mich hindurch, als wäre ich ein wackeliges Stück Gallert, ein besonders weiches Ziel. Ich stützte mich auf, vom Kopfende zum Fensterbrett, sah die Rotoren wirbeln und unseren Hausmeister, der gerade den Rasenmäher steil auf die Hinterräder stellte, und wie er ihn im nächsten Moment nur mit einem Schwung aus der Hüfte wendete, um rasend schnell, ohne einmal abzusetzen, in die Gegenrichtung unter der riesigen Kastanie zu verschwinden. Es war eine Bewegung aus einem Guß, geschmeidig, könnte man sagen, wäre das Gerät nicht so sperrig gewesen. Er hatte Mühe es im Griff zu halten.
Verärgert wollte ich ihm etwas zurufen, aber mir fiel nichts ein. Es hätte nur unnötigen Streit bedeutet. Trotzdem dachte ich darüber nach, was ich rufen könnte, aber nicht rufen würde, weil der Hausmeister ein kluger, netter und hilfsbereiter Mann war, der keine Beschimpfung verdient hatte, und mir fiel ja sowieso nichts ein, außer – seltsamerweise – “Keine Gewalt”. Was soll das?, dachte ich. Wie unangemessen, schließlich hatte man mir nichts angetan, andererseits fühlte ich mich ziemlich gequält. “Keine Gewalt”, die Formel der Hilflosen, und der Demonstranten, die sich nicht vertreiben lassen wollen, aber die natürlich immer, immer verlieren, weil sie nicht kämpfen mögen.
Das nächste Mal könnte ich ein Plakat aus dem Fenster hängen, ein Versuch ist es wert, dachte ich. Vielleicht hätte der Hausmeister sogar Verständnis dafür. Nur ändern würden zwei Worte natürlich nichts.

Hegemoney

Gestern wusste ich mal wieder nicht, wohin mit dem ganzen Geld.
„Dieses Mal ist es noch mehr“, sagte der Lieferant und schleppte ein Dutzend schwarze Müllsäcke vor meine Wohnungstür.
„Wohin damit“, fragte er. „Tja, wohin damit“. Wir gingen hinein und standen dicht beieinander auf dem kleinen Fleck, der mir als Lebensraum geblieben war, in der Mitte des Wohnzimmers, in dieser dunklen Höhle, umgeben von schwarzen Säcken, die an allen Wänden bis unter die Decke wuchsen. Selbst die Fenster waren dicht gestellt, das hatte ich bis zuletzt zu verhindern versucht, irgendwann musste ich mich der bösartigen Wucherung, die meine gesamte Wohnung, ausgehend vom Stauraum unterm Bett, befallen hatte, ergeben und die letzten Bastionen fallen lassen: Die Badewanne, die Fensterwände, drei Säcke hatte ich inzwischen mit ins Bett genommen. Das hätte ich ruhig früher machen können, ich hielt das Bett lange für meinen letzten unantastbaren Rückzugsraum, dann stellte ich fest, dass es sowas für mich nicht mehr gab und nahm ein paar Säcke mit hinein; es schlief sich gut mit ihnen.
Wir standen gedrängt beieinander, er, stämmig, klein, einen Sack auf jeder Schulter, ich, lang, dünn und gebogen, ratlos mit der Taschenlampe funzelnd.
„Und nun“, fragte er und sah mich von unten her ängstlich an. Es war bedrohlich hier, ich fühlte mich natürlich auch nicht wohl, zwischen den dicht gestopften und verschlungenen Innereien meines Geldbergs. Möglicherweise bestand Einsturzgefahr. Im schwachen Licht glänzte die dünne Plastikhaut feucht und ungesund, das Raumklima war furchtbar, uns fiel das Atmen schwer.
„Raus hier“, krächzte ich. Mir schlug das Herz im Hals, die Brust schmal und von schweren Gewichten bedrückt, versuchte ich nicht ohnmächtig zu werden. Atmen, sagte ich mir, einfach weiter Atmen, das geht vorbei. Dem Lieferanten ging es auch nicht gut. Er ließ sich das nicht zweimal sagen, die Säcke glitten zu Boden, und er huschte mir voraus durch den engen Gang zum Flur und weil es dort nicht besser wurde, ins Treppenhaus, wo wir durchschnauften, als wären wir mit letzter Luft aus großer Tiefe aufgetaucht.
„Schrecklich“, sagte er nach einer Weile. Ich nahm mein Handy zur Hand und rief meinen Bruder an.
„Hast du noch ein Plätzchen frei“, fragte ich. Er hatte wohl geahnt, weshalb ich ihn anrief, jedenfalls kam seine Antwort, ohne zu zögern: „Bleib mir vom Leib“, rief er, „ich weiß selbst nicht, wohin mit dem Zeug.“
„Es ist aber ein Notfall“, sagte ich. „Ich hol es auch bald wieder ab, ich lass dich ganz bestimmt nicht darauf sitzen. Nur noch dieses eine Mal“, flehte ich und schämte mich nicht dafür, dass meine Stimme bebte, mir kamen die Tränen.
„Ich kann dir wirklich nicht helfen“, antwortete er, einfühlsam, weich, brüderlich im Tonfall, aber in der Sache blieb er hart. Es hatte keinen Zweck.
Ich war auf mich allein gestellt. Niemand konnte mir jetzt noch helfen. Ich fühlte mich verlassen, einsam wie noch nie. Dann sah ich den Lieferanten an, er war ja noch da, saß auf dem Treppenabsatz und wartete geduldig. Ein braver, subalterner Geist, der nur Befehle ausführte, das ganz sicher, aber ich konnte nicht anders, als wütend auf ihn zu werden. Warum machte er mir solche Probleme?
„Können sie die Lieferung nicht einfach wieder mitnehmen?“, fragte ich, obwohl ich die Antwort kannte.
„Das kann ich nicht machen, das bleibt an mir hängen, dann kann ich gleich einpacken.“
„Nehmen sie es doch mit nachhause“, versuchte ich es nochmal.
„Das geht wirklich nicht“, sagte er, „bei mir wird es auch immer voller.“
„Wir lassen es erstmal hier im Treppenhaus stehen“, sagte ich und sah, wie erleichtert er war.

Am nächsten Morgen war alles noch da, bald würden sich die Nachbarn beschweren.
Ich ging die Straße runter ins Café, ich brauchte Zeit, um nachzudenken. Vor den Häusern lagen Säcke auf großen Haufen. Einige waren aufgeplatzt, einzelne Scheine wurden vom Wind heraus gezerrt und wirbelten zusammen mit dem Herbstlaub über den Gehweg. Bald würde es kalt werden, es lag so etwas in der Luft. Der Kaffee war sehr gut und kostete 1 Cent. In die Supermärkte zu gehen, hatte auch keinen Zweck, dort gab es seit Wochen die „Alles-umsonst-Tage“.
Wieder zuhause, gelang es mir nicht die Wohnungstür zu öffnen. Nur kleiner Spalt tat sich auf, ganz gleich, wie stark ich drückte, die Tür gab immer nur ein paar Zentimeter nach, bis sie aufgehalten wurde vom Gewicht der dahinter versammelten Masse. Die Höhle musste eingestürzt sein. Ich dachte kurz nach, was nun zu tun sei, dann ging ich in den Keller, nahm meinen Schlafsack und wechselte die Schuhe; meine alten Wanderstiefel wären für die kommenden Herausforderungen sicher besser geeignet, dachte ich. Dann ging ich rüber in den Volkspark, den ich schon lange nicht mehr aufgesucht hatte, dabei lag er gleich auf der anderen Straßenseite. Viel hatte sich nicht verändert. Das Café stand jetzt leer. Vielleicht war der Pächter gestorben oder die Geschäfte liefen nicht mehr. Hinter der Baracke suchte ich mir ein ruhiges Plätzchen im Gebüsch und rollte meinen Schlafsack aus. Erstmal durchatmen, dachte ich, und fühlte mich schon viel freier – ohne meine Geldprobleme.

Es ist vorbei

Es war ja noch sehr sonnig, ich putzte meine Sonnenbrille mit einem dieser kleinen seidigen Tücher vom Optiker. Das Tuch sah aus wie ein Leichentuch, tiefschwarz, glänzend, die Ränder zackig wie Sägeblätter. Man hätte eine junge Feldmaus damit abdecken können oder einen sehr großen Käfer. Die Stimmung war dahin.
Waren diese Tücher früher nicht immer weiß gewesen? Früher – als die Dinge noch schön waren -, als man glaubte, es werde gut und dass es mit dem Krieg bald mal vorbei sein müsste, und man auch nicht dauernd so traurig war, irgendwem oder -was nachtrauerte, und sich nicht so sehr danach sehnte, dass alles ganz anders sei, die Arbeit, der Alltag, die Liebe, einfach alles, das eigene Leben, an dem nichts auszusetzen ist, außer dieser Unzufriedenheit. Vorbei. So ein Jammer.
Yoga, wird helfen, Körper und Geist, da hängt ja alles dran, eine ganze Philosophie, die östliche Weisheit, die kann nicht nutzlos sein; Meditation, oder lieber Therapie, natürlich, aber welche zahlt die Kasse?; und Urlaub muss sein, nur wohin, es ist überall so touristisch geworden; die Kinder sind aus dem Haus?, darauf hatte man doch gewartet, und jetzt?, jetzt kommen sie viel zu selten vorbei. Vorbei. Und die Weltlage?
Auf Youtube gibt es alles, Simon & Garfunkel zum Beispiel. Das ist so traurig, Sounds of Silence: Hello Darkness my old friend, hatte man früher nicht anders geweint, süßer, irgendwie? Wieso ist diese Live-Aufnahme schon 50 Jahre alt? Und David Bowie: Ist der wirklich tot? Leider, muss man sagen, ja, the King left the Building, richtig tot, nicht wie Elvis, der natürlich nicht auf der Toilette sitzend gestorben ist, sondern immer noch lebt, wie seine Fans wissen, in der Südsee oder auf dem Mond. Die Zeit der Unsterblichkeit ist vorbei. Nostalgie ist tödlich. Vorbei. Es ist zum Heulen.
Hypnotherapie, 120 Euro die Stunde, keine Kassenleistung, such dir deinen Wohlfühlort und begib dich dorthin, an einen Strand, auf eine Wiese, dein Kinderzimmer, der Wald von früher, als man noch nicht Spazieren gegangen ist, als Spazieren gehen einfach nur langweilig war, mit den Eltern, ach, die armen Eltern, die immer auf den Wegen blieben, such diesen Ort und begib dich dorthin, von da sieht die Welt ganz anders aus, und komm langsam zurück, bei Acht bist du wieder wach, und nimm dieses gute Gefühl mit in den Tag; aber eine Langzeitwirkung ist nicht belegt, das ist schnell vorbei.
Kauf dir mal was Schönes. Oder was Praktisches, eine neue Matratze zum Beispiel, vielleicht kommt die Schlaflosigkeit vom schlechten Liegen, bessere Schlafhygiene insgesamt wäre noch besser, oder doch was Schönes, ein Bild, eine künstlerische Fotografie, das ist mal was Neues, und es anzuschauen ist immer wieder interessant, für eine Weile, aber im Großen und Ganzen wäre die Matratze doch nötiger. Für eine neue Matratze ist es nie zu spät, lohnt sich das noch?, bitte, was für eine Frage, es wird wohl noch genug Zeit zum Schlafen bleiben, soviel Hoffnung muss sein.

Personality Showdown

Nach der Musik änderte die Moderatorin die Tonlage. Die Gesichter wurden ernst. Der Autor war dran. Sie las seine Kurzbiografie von der Moderationskarte ab, nur die wichtigsten Stationen einer beachtlichen Karriere, fügte sie hinzu. Er saß da wie versteinert, vorgebeugt, die Arme auf den Lehnen und blickte zu Boden. Man wisse ja, dass er sich in der Öffentlichkeit rar mache, deshalb sei es eine besondere Ehre ihn in der Sendung begrüßen zu dürfen. Es gab zaghaften Applaus und er rührte sich ein bisschen, nickte mit dem Kopf, aber seine Augen waren immer noch nicht zu sehen. Eine junge Schauspielerin, die vor ihm an der Reihe gewesen war, sah ihn an und lächelte, von Künstler zu Künstler, ihr Gesicht füllte den Raum.
Ob es seine Talkshow-Premiere ist, fragte die Moderation.
Ja, sagte der Autor.
Sie geben auch keine Lesungen, das ist ungewöhnlich, sagte sie, scheuen sie den Kontakt mit ihren Lesern?
Ich kann das nicht, sagte er und sah sie an, dabei kommen völlig falsche Töne heraus. Ich schreibe nicht, um meine eigenen Texte zu lesen, das wäre ein Bruch der Intimität zwischen Leser und Text. Als Leser sollte man schon selber lesen können.
Das war ein Lacher. Auch die Moderatorin lächelte.
Aber üblich ist das nicht, sagte sie. Das gehöre zum Kerngeschäft, ob der Verlag nicht Druck mache?
Was geht mich das an, sagte er.
Sie wollen ihre Bücher verkaufen, vermute ich mal.
Aber nicht um jeden Preis. Ich finde das abstoßend, wie die Autoren ins Rampenlicht gezerrt werden. Als wäre der Text nichts wert, wenn der Schreiber sich nicht gleich mitverkauft.
Natürlich geht es ihnen in erster Linie um ihre Arbeit,
dabei hielt sie sein neuestes Buch in die Kamera,
aber sie sind doch auch eine interessante Persönlichkeit, das muss sich doch nicht ausschließen.
Woher wollen sie denn wissen, dass ich eine interessante Person bin?
Das entnehme ich ihrem Buch, ich finde es sehr lesenswert.
Das macht doch keinen Sinn, sagte er und warf einen Blick in die Runde, es gibt überhaupt keine interessanten Persönlichkeiten.
Dann können wir unsere Sendung ja einstellen.
Von mir aus gern!
Warum sind sie dann in unsere Sendung gekommen?
Genau deshalb!
Damit wir unsere Sendung einstellen?
Kann man so sagen.
Das ist ein bisschen viel verlangt, mischte sich jetzt ihr Moderatorenkollege ein. Wir sollen unsere Sendung einstellen, weil sie sich für eine uninteressante Person halten? Das ist vielleicht auch nicht ganz fair unseren anderen Gästen gegenüber.
Die haben doch auch nichts zu sagen, sagte der Autor.
Wenn ich mal was dazu sagen darf, sagte ein Sänger, der am Anfang der Sendung seinen Auftritt gehabt hatte, ich finde das nicht sehr höflich von ihnen, aber geschenkt. Nur: Was wären sie denn ohne ihre Leser?
Dann wäre ich ein Autor ohne Leser, sagte der Autor.
Und damit wären sie glücklich?, fragte der Sänger.
Glücklich bin ich jetzt auch nicht.
Das merkt man, sagte die Moderatorin und da bereits die Musik zum Ausklang der Sendung lief, bedankte sie sich ausdrücklich bei allen Gästen und lud die Zuschauer ein, bei der nächsten Sendung am kommenden Freitag wieder dabei zu sein.

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