Würden wir nur unseren Alltag zum Maßstab nehmen, ließe sich über die “Gesellschaft” nicht viel mehr sagen, als dass es sie gibt: Die soziale Realität ist, was sie ist, weil sie nunmal ist, wie sie ist. Von Menschen gemachte Verhältnisse so zu betrachten, als seien sie ohne unser zutun gewachsen, nannte der Soziologe Pierre Bourdieu “Naturalisierung”. Tatsächlich ist diese naive Art zu denken viel weniger harmlos, als es zunächst den Anschein hat. Ein paar Beispiele: “Wir produzieren diese Sendungen, weil der Zuschauer sie sehen will” (Fernsehen), “Wenn ich es nicht tue, macht es ein anderer” (Kriminelle), “Wir führen Krieg, um den Frieden zu sichern” (Militär, Regierungen), “Es gibt keine Alternative zu unserer Politik” (Neoliberale), “Der Niedriglohnsektor wurde nicht geschaffen, es gibt ihn einfach” (Olaf Scholz, SPD), und auch sehr beliebt: “So ist der Mensch eben”, also z.B. egoistisch, gewalttätig, kapitalistisch usw., eine Aussage, die generell ausschließen soll, dass “der Mensch” sich ändern könnte. Dabei ist die Rede vom “Mensch” im Allgemeinen schon selbst die allergrößte Naturalisierung. Wer soll das denn eigentlich sein? Wir alle natürlich, die wir Menschen sind, nur eben rigoros eingedampft auf angeblich angeborene, unabänderliche Gemeinheiten, die in jedem von uns stecken sollen. Als Realisten bezeichnen sich gerne diejenigen, die solchen biologistischen Unsinn verbreiten, um sich selbst ihre frustrierte Weltsicht zu erklären oder die eigene Gemeinheit damit zu entschuldigen, dass alle anderen ja auch nicht besser sind. Im Kern dieses Geredes steckt Ideologie. Sie ist ihren Anhängern oft selbst nicht bewusst, da sie sogar in ganz gegensätzlichen Ansichten und Meinungen enthalten sein kann. Es ist die Ideologie des De-Engagements, der Entpolitisierung des eigenen Denkens und Handelns. Dieser “ideologische Realismus”, der mit der Realität nichts gemein hat, besteht darin, die eigene Kraft- und Willenlosigkeit als allgemeines Gesetz aufzufassen und damit jegliche Bestrebung, die darauf hinausläuft, sich selbst zu ändern oder die Gesellschaft, oder überhaupt irgendwie gestaltend aktiv zu werden, für grundsätzlich sinn- und zwecklos zu halten: Wo Natur herrscht, hat Politik nichts zu sagen. Oder nochmal anders: Da sind wir leider machtlos.
Der liberale Zeitgeist scheint vom ideologischen Realismus unberührt zu sein. Die Selbstoptimierer, Startupper, Studierende, junge Familien und auch Arbeitslose, die sich bewerben, selbst verrentete Freizeitgestalter und Grundschüler, die Limonade verkaufen, eigentlich jeder, der überhaupt etwas in dem Glauben tut, damit sein Leben verbessern zu können, scheint beseelt zu sein von einem Idealismus der Tat, also der Überzeugung, dass es selbstverständlich besser ist zu handeln, als nichts zu tun. Dass sich diese Ideologie der Tat und der ideologische Realismus des Desengagements nicht widersprechen müssen, obwohl sie scheinbar für völlig gegensätzliche Haltungen stehen, wird beispielsweise an den oben genannten naturalisierenden Aussagen deutlich: “Es gibt keine Alternative zu unserer Politik”, soll ja gerade nicht bedeuten, dass nichts zu tun wäre, sondern eben nur nichts anderes als bisher schon. “Weiter so” und “Lasst uns mal machen” steckt in dieser Aussage und verbindet Desengagement mit einem Pathos der Tat, indem die Angesprochenen aufgefordert werden, selbst nichts zu tun, und trotzdem daran zu glauben, dass es auf gutem Wege voran geht.
Mit einem bisschen schlechten Willen ließe sich in dieser Verbindung die heutige Grundverfassung des demokratischen Wahlvolkes erkennen. Es sieht sich in der moralischen Pflicht zu wählen und gibt mit dem Wahlzettel, das ist praktisch, auch die Verpflichtung ab, darüber hinaus politisch handeln zu müssen. Für die meisten Wähler sind staatlich organisierte Wahlen das einfachste Mittel, um sich an der Demokratie zu beteiligen. Oft sind sie auch das einzige. Gerade für die ansonsten politisch inaktiven Demokraten sind Wahlen besonders wichtig, da sich ihr Desinteresse mit dem Wählen umstandslos in politische Teilhabe verwandeln lässt. Es ist das Dogma einer eher unpolitischen Demokratieauffassung, sich verpflichtet zu fühlen, wählen gehen zu müssen.
In Vorwahlzeiten wird unablässig darauf hingewiesen, dass es keinen Grund gäbe, nicht zu wählen. Wählen wäre alternativlos. Nichtwählen würde der Demokratie schaden. Möglicherweise gibt es Situationen, in denen das Gegenteil richtig ist. In denen das Wählen nur der Ausdruck eines Unwillens ist, wirklich politisch aktiv zu werden. Neben vielen anderen guten Gründen für das Nichtwählen reicht es vielleicht schon aus, seine Stimme nicht abgeben zu wollen an einen Repräsentanten, sondern sie zu behalten, um sich selbst Gehör zu verschaffen. Es ist vollkommen legitim, nicht für die Vertreter eines Politbetriebs zu stimmen, der sich nach den Wahlen daran macht, für die weitere Entpolitisierung unseres Denkens und Handelns zu sorgen.
Die im Vorfeld der Wahlen geführten Scheindebatten um Kandidaten, Köpfe, Parteien, Programme, Koaltitionen usw. bilden zwar kaum ab, wie Politik wieder demokratisiert, also zugänglich werden könnte für Nichtpolitiker, allerdings zeigen sie, wie unsere Demokratie derzeit organisiert und von Berufspolitikern interpretiert wird: Der Staat als Beute der stärksten Parteien. Als eine hermetisch abgeriegelte Sphäre des Politischen, die nur als flache, unangreifbare Darstellung politischer Realitäten nach außen dringen soll. Diese Vorstellung von Politik wird uns auf vielen verschiedenen Kanälen nahegebracht, sie ist gezielt daraufhin optimiert, Politik ausschließlich als das zu verstehen, was unsere Politiker machen. Auch hierbei handelt es sich um eine Naturalisierung. Sie besagt in etwa: So ist Politik eben. Soll heißen: Nur wer sich darauf einlässt, kann politisch aktiv werden. Indem er wählt oder Parteimitglied wird. Und danke, mehr wird gar nicht verlangt.
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