Ich war ein bisschen betroffen, als ich neulich einen Artikel über das Schicksal von Jogi Berner las. Der Single-Rentner hatte ein mittelmäßiges Leben geführt, voller selbstverschuldeter Langeweile. Es war ein langer Text über Einsamkeit, interkulturelle Missverständnisse und über die ganz großen, nahezu sinnlosen Fragen, die sich Herr Berner vermutlich nicht gestellt hat, weil er ausreichend mit der Bewältigung seines Alltags beschäftigt war. Das sei nicht zu kritisieren, schließlich wäre es schwer genug, die täglichen Aufgaben zu meistern, sie würden die größten und wahren Probleme aufwerfen, wie der Autor meinte. Es bliebe aber offen, ob es sich überhaupt lohnen würde, diesen stetigen Kampf gegen die Umstände zu führen, wenn nicht ein größerer, persönlicher Lebenssinn die Einzelteile zusammenhalten würde.
Herr Berner hatte sich im fünften Jahr nach der Pensionierung für eine Kreuzfahrt entschieden. Keine große Sache, 7 Tage Mittelmeer, für ihn aber der erste Urlaub seit … vielleicht überhaupt der erste Auslandsurlaub, das wurde nicht ganz klar, im Harz war er jedenfalls mehrfach und gern gewesen. Um es kurz zu machen: Er versprach sich von der Seereise, das teilte er einer Bekannten mit, günstige Gelegenheiten, bei denen er eine nette Person kennenlernen könnte. Möglicherweise war in dieser Richtung schon etwas gediehen, als Herr Berner am 3. Tag der Reise unbemerkt über Bord ging. Dass dieser an sich unbedeutende Todesfall dann zum Anlass genommen wurde, einen ganzseitigen Artikel in einer deutschen Wochenzeitung zu veröffentlichen, verdankte sich allerdings allein den spektakulären Umständen unter denen seine Leiche wieder auftauchte.
Der Autor entwickelte geschickt sein Material, indem er vor dem Hintergrund der mageren Biografie des Verstorbenen wie in einem Lückentext prüfende Fragen zum Sinn einer solchen erlebnisarmen Existenz stellte. Wenig überraschend sprach er gleich zu Beginn von einem “nicht erfüllten Leben”, was schon daran zu sehen sei, dass die Umstände seines Todes alle Lebensereignisse in den Schatten stellen würden. Das sei natürlich eine ungeheure Tragik. Herr Berner bliebe nur als Leiche in Erinnerung, das wäre quasi ein nachträglich verhängtes Todesurteil.
Nachdem ich den Artikel gelesen hatte, legte ich die Zeitung zur Seite, ich hatte noch einiges zu erledigen, fühlte mich aber, wie schon gesagt, betroffen. Beim Staubsaugen, das mir, trotz aller Versuche es meditativ zu betreiben, immer noch lästig fällt, wurde ich dann diffus missmutig und ließ es sein. Später wollte ich noch zum Schwimmen, hatte aber darauf keine Lust mehr. Herr Berner ging mir nicht mehr aus dem Kopf, er tat mir Leid. Ein dummer Zufall hatte gereicht, um ihn öffentlich vorzuführen, jetzt musste er herhalten als erschreckendes Beispiel für einen unzeitgemäßen Menschen. Und – wie ich vermute – als Gegenentwurf zur Lebensweise der meisten Leser des Artikels, die mit Aktivreisen, Sport- und Freizeitaktivitäten stets bemüht sind, ihre verbleibende Zeit sinnvoll zu gestalten. Mir machte das zu schaffen und ich kam zu nichts mehr an diesem Tag, außer, dass ich noch zum Schwimmen gegangen bin – obwohl es mir keinen Spaß machte.
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