Ich will jetzt mal etwas über “das Böse” schreiben. Ist das eigentlich erlaubt? So ein Griff in die oberste Schublade, “das Böse”, ja, genau, “das”, verlangt ja nach wissenschaftlicher Gründlichkeit, Philosophie, Psychologie und auch die Religion redet bei dem Thema nicht nur mit, sondern hat eigene alte Ansprüche, historisch betrachtet, handelt es sich beim Bösen um ihre Erfindung. Die Religion hat das Böse in die Welt gebracht, natürlich als Antipode zu sich selbst, aber das ändert nichts: Es gibt das Gute nur, weil das Böse existiert. Und nach ihrer ersten Hochzeit und dem anschließenden Niedergang sieht es heute so aus, als würde ein neues Zeitalter der Religion anbrechen, dieses Mal unter verkehrten Zeichen, im Namen eines bösen Gottes. Mag sein, dass es nicht stimmt, dass es viel zu pathetisch oder sogar selbst religiös erscheint, heute so auf die Welt zu blicken – nur, ist es gar kein Blick, also keine bestimmte Perspektive, die dazu führt, die heutige Welt wieder als ein religiöses Zerrbild einer viel komplexeren Realität wahrzunehmen, es ist gerade der Wunsch das nicht zu tun, die Vorstellung, dass alle Religionen doch schon lange ausgedient haben müssten, gerade diese Vorstellung macht doch vollkommen klar, dass es eben nicht so ist: Die meisten Menschen sind Gläubige, Anhänger institutionalisierter Religionen.
Als ich das erste Mal von “der Achse des Bösen” hörte, konnte ich einen leichten Anflug von Begeisterung für diese Wortschöpfung nicht unterdrücken. Offensichtliche Propaganda, perfide, vor allem in ihrer rücksichtslosen Reduktion von Realität auf ein nützliches Vehikel für die eigenen machtpolitischen Interessen. Bald gefolgt vom “War on Terror” – in den News meist hinterlegt mit ikonischen Flammenzungen – waren mit den Bildern der einstürzenden Twin Towers alle Zeichen in Umlauf gebracht worden, um in panischen Zeiten breite Zustimmung dafür zu bekommen, die Welt auf den Kopf zu stellen. Wenn Hannah Arendt damit recht hatte, dass das Böse ohne Abgrund ist, verwechseln wir es vielleicht zu oft mit dem Schrecken und der Zerstörung, die es hinterlässt. Das Böse ist banal, seine Folgen sind es nicht. Hier beginnt das auf-den-Kopf-stellen, wenn einer der uns vertraut erscheinenden Politiker, im Anzug, anständig frisiert, ohne Bart, das Gute für sich und uns in Anspruch nimmt, und das mit einer Mimik und Gestik unterstreicht, die unserem eigenen Repertoire entspricht, der insgesamt mit einem zivilisiertem Habitus auftritt und verkündet das Böse bekämpfen zu wollen, dann ist die Bereitschaft groß, ihm zu glauben. Es ist ganz einfach, es bedarf dann keiner Erklärung mehr, was das Böse genau ist, es ist das radikal Andere, alles, was wir nicht sind. Wer so Politik macht, hat die Moderne aufgegeben, ist zurück auf dem Boden archaischer Ansichten, wir gegen die, und lässt natürlich alles unbeachtet, was schon einmal weiter war – Wissenschaft, Ethik, Menschenrechte, selbst Religion …
Dabei müsste es eigentlich genau darum gehen: Wenn jemand das Böse für sich in Anspruch nimmt, sei es auch als Gegenbild zu sich selbst, sollte es selbstverständlich sein, zu fragen, was er damit meint. Es kann einfach nicht ausreichen, das Böse damit zu erklären, dass es auf der anderen Seite steht, uns gegenüber, uns vielleicht hasst und bekämpft.
Nur wenige Menschen halten sich selbst für böse und die wenigen, die es tun, dürften damit auch nicht ganz richtig liegen. Wahrscheinlich haben sie ausreichend Gründe, ihre Gedanken und Handlungen als böse zu empfinden, sie sind es vielleicht auch, warum sollte man das anzweifeln. Allerdings sind vermutlich diejenigen, deren Selbstkenntnis und Moral ausreicht, sich selbst als böse zu betrachten, schon irgendwie im Modus der Beichte und auf der Suche nach Erlösung. Es wäre also ganz falsch, nach dem Bösen zu forschen, wo es sich selbst bezichtigt und aufspielt als fleischgewordene Präsenz des Bösen in der Welt. Das Böse als Ding oder eigenständiges Wesen, eben das mit dem “das” davor, existiert nicht, es kann daher auch nicht als Rechtfertigung dafür dienen, dass Böses geschieht. Es gibt keine Pille, nach deren Einnahme wir ins Reich des Bösen eintreten würden, schon deshalb nicht, weil es diesen Ort ebenfalls nicht gibt, das Böse selbst verführt niemanden zum Bösen, es kann nicht hergestellt, verloren und gefunden werden, es kann nicht zerstört werden, wie Bilbo Beutlins Zauberring, weil es nicht real ist, es hat keine Materialität wie andere Dinge in der Welt, aber es existiert als allgemeine Idee und als Begriff für das, was wir in der Welt für schlecht und falsch halten. Es hilft uns ethische Urteile zu treffen. Aber es existiert auch als böses Denken, nicht nur als abstrakter Begriff oder als Idee, die uns helfen würde, Böses zu erkennen, sondern als eine vollkommen mit sich selbst zufriedene Vorstellung von dem, was eben sein muss, um die eigenen Ziele zu erreichen. Diese Haltung versteckt sich oft hinter der Rede vom Mittel zum Zweck, wobei zu bedenken ist, dass dabei Mittel und Zwecke meistens paradox verbunden sind, wie zum Beispiel: Krieg um Frieden zu stiften oder Folter anzuwenden, um die Wahrheit zu erfahren. In diesen Fällen bedient man sich selbst der Mittel, die man zu bekämpfen vorgibt, was es unmöglich macht, die vorgeblichen Ziele zu erreichen. Wenn die Zwecke aufgrund eines solchen Widerspruchs unrealistisch oder unglaubwürdig zu sein scheinen, sollten die Mittel beurteilt werden, denn sie sind es, die die Welt verändern. Das ist nun kein origineller Gedanke. Dass wir das Handeln bewerten sollten und nicht das Gerede drumherum, ist zum Glück schon fast Gemeingut. Es wird allerdings immer wieder vergessen.
Vergessen wird, was nicht erinnert werden soll, was unsere Gewohnheiten stört, die Praxis aufhält, was zum Beispiel mich daran hindern könnte, diesen Text zu schreiben. Und gerade beschleicht mich genau dieses Gefühl, etwas vergessen zu haben. Warum wollte ich, über das Böse schreiben? Habe ich dazu überhaupt schon etwas gesagt? Die ganze Hölle des Selbstbezugs, um die es uns auf dieser Seite (MICHMASCHINE) ja eigentlich geht, einfach vergessen? Nicht ganz. Denn das Vergessen bedeutet für mich in diesem Fall, dass ich es wirklich nicht (mehr) weiß und deshalb darüber schreibe; um mich zu erinnern. An diesem Punkt kann ich sagen, es ist mir nicht wieder eingefallen. Gelohnt hat es sich trotzdem, für mich, denn ich konnte seltsame Reflexe, etwas überschnappene Stimmungen, die mich derzeit beim allem möglichen überfallen, miteinander in Verbindung bringen, ohne bisher explizit darüber schreiben zu müssen, wie das Böse im Detail in “meine Welt” eindringt:
Im Fernsehen gab es einen Beitrag zu “40 Jahre Punk” und natürlich war der junge Johnny Rotten zu sehen, wie er mit seinem faszinierend irren Blick auf der Bühne wütet und singt: “I am an Antichrist”; natürlich nicht, der ist viel zu lieb, “I am an Anarchist”, ja das schon, bestimmt. Vor ein paar Monaten habe ich ihn auf der Bühne gesehen, dick und mit Lesebrille, er las die Texte seines neuen Albums vom Zettel ab, und ich dachte, wie sympathisch, kein Hauch von Mythenverwaltung, auch wenn es das Publikum natürlich erwartet. Der macht es richtig, keine 40 Jahre Punk, das gibt es nicht. Was es gibt, ist das Verlangen, nach 40 Jahren immer noch und immer mehr Geld zu verdienen mit Punkstereotypen. Und während ich auf all die aufgesetzten bösen Gesichter der jungen Punks im Fernsehen starrte, wurde mir noch klarer als damals, ihr wart natürlich die Guten, früher. Nicht wenige von ihnen werden heute daran arbeiten, den Punkmythos lebendig zu halten und die Erinnerung daran in ihrem Sinne zu gestalten, nämlich als eine ewig aktuelle Version von Rebellion, die schon damals ausschließlich Teil des Popgeschäftes, niemals der Politik war. Das dient zur Verklärung der eigenen Jugend und denjenigen, die im Geschäft sind, bringt es Geld. So harmlos das erscheinen mag, ist ja völlig normal, verdienen muss jeder, und TV-Jubiläen (40 Jahre?) versenden sich auch schnell, aber dieser Punkzombie fügte sich umgehend ein in meine derzeit nervlich angespannte, irgendwie katastrophische Grundstimmung: Nach 40 Jahren, “I am an Anarchist”, ist es also völlig normal, sogar gesellschaftlich gewünscht, Menschen zu kontrollieren, zu überwachen, sicherzustellen; wer es geschafft hat, ist Chef, hat Macht über andere. Ob Punkverwalter, Hausmeister oder wirklich Mächtiger, die Stellung ist egal, das Böse beginnt mit dem Wunsch, andere beherrschen zu wollen.
Was für Umwege es manchmal braucht, jetzt ist es mir tatsächlich wieder eingefallen, wie naheliegend, banal wie das Böse, aber das wollte ich sagen.
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