Die Anhängerschaft einer Tageszeitung der linken Mittelschicht resp. der Partei der Wähler mit dem höchsten Durchschnittseinkommen feiert sich selbst. Natürlich auf dem Niveau der auf sie verwendeten Bildung, die zu leugnen man wirklich keinen Grund hat. Aktuelle gesellschaftliche Debatten werden geführt: Flüchtlingspolitik, Terror, TTIP, Feminismus etc. Die Beiträge sind gehaltvoll und bedenkenswert, wenn auch zumeist auf einer theoretischen Ebene angesiedelt, die das Gesagte gegen Widersprüche oder Unverträglichkeiten mit der Wirklichkeit absichert. Veranstaltungsort ist das Haus der Kulturen der Welt, Konferenztag ist der 2. April 2016.

Auf einer der vielen Diskussionsforen bemerkt Claus Leggewie, dass die Gesellschaft, allen voran die Politik, das Engagement der Zivilgesellschaft für Flüchtlinge lobt, nicht zuletzt aus einer neoliberalen Haltung heraus. Der Staat spart durch die vielen ehrenamtlichen Helfer Millionen, wenn nicht Milliardenbeträge ein. Oft (LaGeSo Berlin) funktioniert die erste rudimentäre Flüchtlingsbetreuung überhaupt nur durch die freiwilligen Aktiven. Das zivilgesellschaftliche Engagement wird eben nicht, so Leggewie, von ebensolchem institutionellen begleitet. Das drückt auch ein Publikumsbeitrag einer Flüchtlingshelferin aus Hamburg aus: wenn sie in die Verwaltung geht, um Mittel für Flüchtlinge zu beantragen, werde sie dort behandelt wie sie das aus Ostdeutschland vor 1989 kenne. Ob die vielbeschworene Integration überhaupt gewollt werde, sei fraglich, oft werde kein Sprachunterricht erteilt und die Menschen sind in ihrer Ausnahmesituation auf sich selbst zurückgeworfen; das einzige, was stattfindet, nachdem etwa Kinder begonnen haben, Kontakt zur hiesigen Gesellschaft aufzunehmen und die deutsche Sprache zu lernen, seien immer neue Transferaktionen; eine Familie wird erstmal für ein paar Wochen in eine erneut fremde Umgebung, z.B. nach Schleswig-Holstein geschickt.

Der wohl spektakulärste Ausbruch authentischer Disharmonie gelingt Anton Hofreiter: Nachdem Hofreiter deutlich Position bezieht (und ich mir einen gewissen Hofreiter-Fanstatus eingestehen muss), etwa in der Flüchtlingspolitik, wird im zweiten Teil der Veranstaltung ein Statement aus dem Publikum geäußert, das Kritik an den Grünen, der Agenda 2010 (Hartz) sowie der Zustimmung zur Verschärfung des Asylrechts beinhaltet. Hofreiter rastet aus und ist vom Moderator kaum zu bremsen. Er wettert gegen diejenigen, die es sich in der Opposition bequem machen und immer auf der richtigen Seite stehen wollen; wenn man etwas verändern wolle, müsse man sich die Hände schmutzig machen, sonst würde man nie etwas erreichen, man müsse Kompromisse schließen etc. – Hofreiter redet sich in Rage und lässt keinen Zweifel daran, dass er sich sicher neuerlichen Angriffen gegen das untere Drittel der Gesellschaft nicht verweigern würde, denn dafür säße er ja dann in der Regierung. – Vielleicht erklärt sich so die unverändert ernste Miene Hofreiters, als der Moderator ihn bei der Vorstellung der Diskussionsteilnehmer zu Beginn der Veranstaltung süffisant den neuen Bundesminister in spe in einer schwarz-grünen Bundesregierung nennt.

Zudem gab es noch einen an Evidenz nicht mangelnden Streit zwischen Hofreiter und dem grünen Bürgermeister Boris Palmer über die Existenz oder das nur virtuelle Leben eines Professors. Hofreiter gibt auch hier den Unbestechlichen, argumentiert vehement und gewährt dem vermeintlichen schwäbischen Professor keine Ausflucht mit seiner Phantomangst vor zu vielen Flüchtlingen eingedenk seiner blonden Tochter.

Aufschlussreich waren auch zwei Wortbeiträge aus dem Plenum, beide gewissermaßen Geschädigte einer sich moralisch-ethisch integer gebenden und dafür als antirassistisch ausgezeichneten Schule. Die Mutter eines Kindes dieser Schule beklagte, dass sie mit ihren Erfahrungen des Mobbing oder der Homosexuellenfeindlichkeit keine Chance auf Gehör bei Lehrpersonal oder Eltern hätte. Auch deswegen, weil sie im Unterschied zu anderen, etwa Professoreneltern, nicht allzu viel Gewicht in die Waagschale werfen könne. Ein offenbar selbst betroffener schwuler Jugendlicher äußerte sich ebenso: Hochgehalten werde vor allem die integere Haltung der Schule in puncto Rassismus. Andere Formen der Diskriminierung oder Demütigung von Minderheiten werden nicht beachtet oder gar geahndet.

Zum schönen Schluss dann noch eine an Absurdität und aufgeklärtem Selbstgenuss kaum mehr zu überbietende Veranstaltung zum Thema Kunst und Konsum. Wie lau und fernab aller auch nur theoretischen Anmutungen der Konsumkritik hier sogar über den progressiven und uns für die Herausforderungen des Alltags prädisponierenden Akt des Konsumierens gesprochen wurde, verweist doch eher auf den noch wenig erforschten Zusammenhang von Kunst und Verblödung: Aufmerksames Konsumieren will gelernt sein, Trainieren muss, wer aufgeklärter Käufer sein will, der differenziert aussucht und unter Zuhilfenahme der Produktinformationen (Warenaufdruck) seine souveräne Entscheidung trifft usw. Wie denn Konsum und Kunst zu unterscheiden seien – ganz einfach: einmal geht es um Konsumieren und bei Kunst handelt es sich schließlich um einen Vorgang der Rezeption. Weiterhin wurde freudig festgestellt: auf dem Markt werden horrende Summen für Kunst bezahlt. Alle (das wurde positiv bestätigt und als legitim erachtet) wollen Erfolg auf dem Markt haben. Kunst hat eine Aura. Kunst ist Luxus und zwar für alle. – So kann auch der Aufstocker am immaginären Luxus der Kunst partizipieren und seine bildungsbürgerliche Identität unendlich ausbauen resp. aufstocken. Zudem erblickte ein bedenkenswertes Argument das Licht der Welt, dass ich so noch nicht kannte: wer in Kunst investiert, kauft keine Waffen und investiert nicht in windige Finanzprodukte. Man tut also in jedem Fall etwas Gutes.