Im Frühsommer 2015, als sich das in der Öffentlichkeit vorherrschende Thema von Griechenland auf die Flüchtlinge verschob, begann der Zersetzungsprozess einer mehrjährigen, teilweise engen Freundschaft. Auf dem Weg zum Biergarten hatte es schon die erste Meinungsverschiedenheit über die Aktion des Zentrums für politische Schönheit gegeben, das mit zwei Beerdigungen von Flüchtlingen und mit der symbolischen Errichtung von Grabstätten in der Stadt das Ertrinken von Menschen im Mittelmeer ins öffentliche Bewusstsein heben wollte. Die Toten kommen (http://www.politicalbeauty.de/toten.html) – für meinen Begleiter, der sich gar nicht über den Inhalt der Aktion informiert hatte, die er vehement ablehnte, gab es vor allem diese Kritikpunkte: das alles sei pietätlos und die Leute vom ZfpS seien nur darauf aus, sich selbst in den Vordergrund zu schieben, außerdem hätte das nichts mit Kunst zu tun. Auf meine Erläuterungen hinsichtlich des symbolischen Gehalts der bewusst provokativen Inszenierung der Aktion gab es dann positive Resonanz. So hätte er das noch nicht gesehen.

Heute ist mir klar: es ging gar nicht um die Auseinandersetzung mit einer öffentlichkeitswirksamen Parteinahme für Flüchtlinge, sondern im Gegenteil: um die Abwehr von Fremden, die in Deutschland und Europa kein Existenzrecht hätten.

Das Gespräch setzte sich dann im Biergarten fort; es war die Rede von den Griechen, die keine Vorschläge zur Rückzahlung ihrer Schulden machten und später von den Flüchtlingen, die keiner zwänge, sich auf den Weg über das Mittelmeer zu machen, in dem sie dann ertrinken. Die weitere Argumentation beinhaltete dann: wir können nicht die Welt retten oder: ich könne ja einen Flüchtling bei mir zuhause in der Einzimmerwohnung aufnehmen. – Meine Versuche, den fruchtlosen Meinungsstreit zu vertagen, also das Gespräch auf ein anderes Thema zu lenken, blieben erfolglos. Mir zeigte sich ein Charakterzug, der mir schon bekannt war: ein Hang zur bisweilen aggressiv vorgetragenen Rechthaberei und zu ostentativer Entrüstung über nahezu beliebige Themen. Parallel dazu war ein Habitus übertriebener Selbst-Euphorisiertheit in Gesellschaft mit Anderen ausgeprägt, ein In-Ekstase-Geraten unter Anwesenheit von Publikum.

Allen Rationalisierungen zum Trotz bleibt der Verlust einer Freundschaft zu beklagen. Die Angst, einsamer zu werden, einen Gesprächspartner verloren zu haben, ein Korrektiv, jemanden, der vielleicht in entscheidenden Momenten Zuspruch geben oder Trost spenden, manchmal sogar Ratgeber sein kann; die gegenseitige Anteilnahme am Leben des Anderen, die selbstverständliche Kenntniss des Anderen. Freundschaftliche Nähe lässt mich selbst als Bestandteil der Welt begreifen und damit weniger ausgeschlossen. Meinungsverschiedenheiten sind unabwendbar. Sie untergraben aber das gemeinsame Vertrauen und den Respekt, wenn sie einhergehen mit persönlichen Verletzungen, Rechthabertum und Überlegenheitgesten, die Nichtanerkennung und Abweisung anzeigen. Diese Drohung, gepaart mit einem Hang zur Cholerik war latent immer vorhanden und wurde nach besagtem Biergartenbesuch so manifest, dass ein kommunikativer Zusammenbruch, jederzeit (erneut) zu befürchten war. Ein solcher Zustand ist für Freundschaft auf Dauer untragbar. Ich jedenfalls wollte mich nicht wieder bei einem Freund melden, der meine eigene Ohnmacht noch vergrößert, indem bestimmte Themen einseitig (von mir) gemieden werden müssen, damit nicht auf der anderen Seite der sicher so empfundene gesunde Zorn sich in einer Welle der Empörung Luft verschaffen würde, die vor allem mir galt. Auch wenn Weltverachtung und Selbsthass dem beigemengt sind.

Was mir zunächst als Wende vom als belesen und aufgeklärt Auftretenden, im Kulturbereich tätigen Menschenfreund und Linken (als der er sich wohl bis dato beschrieben hätte) zum von Ressentiments und der Abwertung Anderer getriebenen Fremdenfeind erschien, war in Wahrheit wohl nur das Deutlichwerden einer bestimmten Haltung.

Über die Jahre war das Leben in verschiedenen Facetten unser Thema: Beziehungen, Arbeitsverhältnisse, Literatur, Politik, nicht zuletzt das, was man gemeinhin als Selbstverwirklichung bezeichnet. Für ihn hieß das die Bestätigung der eigenen Arbeit und Qualifikation, keine Bevormundung, Freunde, Geselligkeit, Glück. Das alles in dem Bewusstsein, nicht mehr unendlich viel Lebenszeit zur Verfügung zu haben.

Warum fordert jemand für sich Liebe und Aufmerksamkeit ein und hegt, als wäre das selbstverständlich, massive Ressentiments und Hassgefühle gegen Flüchtlinge?

Widersprüche fallen mir auf, die meines Erachtens auch bei vielen anderen Zeitgenossen beobachtbar sind und zugenommen haben: das Sich-Beklagen über die Lieblosigkeit und Unzuverlässigkeit Anderer (man selbst handelt allerdings auch nicht anders als die Diskriminierten); oder Bemerkungen wie: “Das ist jetzt nicht meins”, “Das brauch ich jetzt nicht”. – Das Individuum ist, nach diesem Selbstverständnis, um so nachhaltiger zur Durchsetzung seines Glücksanspruchs befähigt, als es nur für sich und in genauer Kenntnis eigener Bedürfnisse agiert. Der Einzelne wachse so zur idealen Identität von Person, Arbeit und Weltverhältnis heran. Als könne eine Art inneres Steigerungsverhältnis in der persönlichen Entwicklung alle Diskrepanzen mit sich und zwischen sich und den bestehenden Lebensbedingungen stetig reduzieren und einem souveränen Einverstandensein Raum geben. Als bestünde das Ziel des Lebens darin, sich gegen widrige Umstände zu behaupten, sich stärker als diese zu erweisen – ohne dass jemand dabei hilft. Hier werden, scheint mir, erste Konfliktpunkte mit der Lage von Flüchtlingen deutlich. Deren Leiden wird zwar zugestanden – jene aber entziehen sich der heroischen Selbstbehauptung einfach dadurch, dass sie ihr angestammtes Lebensumfeld verlassen. Eine solche Möglichkeit gibt es für den an mangelnder Selbstrealisierung leidenden modernen Metropolenbewohner nicht. Ich kann mir, in Kenntnis des Freundes, ein solches Selbst- und Weltverhältnis nur als auseinanderfallendes vorstellen. Das Ich ist in permanentem Kampfmodus. Dass alle Anderen auch Zukurzgekommene, nicht Beachtete und Beleidigte sind, ist nicht relevant. Die eigene Stärke drückt sich gerade dadurch aus, eine Meinung zum Zustand der Welt zu haben, ohne dass die eigene Person Teil dieses Kontinuums ist. Die eigene Lebensentfaltung geschieht sozusagen unabhängig davon.

Dabei wird immer wieder registriert, dass sich der Nebenmensch nicht am eigenen Glücksstreben beteiligen mag. Es folgt die Enttäuschung und der fatale Entschluss, noch mehr auf die Kongruenz von eigenen Ansprüchen und Bedürfnissen mit denen Anderer zu achten. Anders kann der als Rücksichtslosigkeit empfundenen Weigerung der Welt, das eigene Wohlbefinden zu befördern, nicht begegnet werden.

Die geradezu bohrende Empfindung eines Betrogenseins um die Früchte eigener Lebensanstrengungen, eigener Liebenswürdigkeit, Freundlichkeit, Entbehrungen etc., die sich eben nicht in vermeintlich gebührender Aufmerksamkeit und Bestätigung niederschlagen – das hat etwas Kulthaftes oder Mythisches. Das ertragene Leid war nicht umsonst und wird sich eines Tages auszahlen. – Auf jeden Fall scheinen solche Vorstellungen Teil einer narzistischen Kränkung zu sein. Die eigene so empfundene Qual darf nicht relativiert werden. Nicht durch ertrinkende Flüchtlinge, die bisweilen immense öffentliche Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Auch nicht dadurch, dass das Leiden an der gescheiterten Selbstverwirklichung in Konkurrenz zum Leid der Anderen so kläglich und profan anmutet, dass eine fast trotzhafte Abwehr erfolgt. Das eigene Leben ist schließlich schwer genug. Wut entlädt sich gegenüber demjenigen, der die eigene Leidensevidenz in Frage stellt. Es kann und darf und soll nichts Wichtigeres geben als das eigene Unglück.