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Lost in Media

Kategorie: Gesellschaft (Seite 1 von 3)

Derealisationen 11

Ich hatte mir versprochen, dran zu bleiben, nur abzuschweifen, wenn es nötig werden würde, also oft, aber eben ausschließlich, um mein vielleicht zu festgefahrenes Denken zu umgehen. Das gelingt nicht so gut, wie ich es mir gewünscht hätte. Aber besser, als zu erwarten war, denn ich wusste nicht, wie es geht. Weiß es noch immer nicht. Ich denke nunmal, wie ich denke, das ist schwer umzubiegen. Und dem Denken folgt Handeln oder das Handeln geht voraus, was sicher nicht selten passiert, aber immer haftet meinen Handlungen etwas an, das wohl Ausdruck meines „Selbst“ ist und das ich beobachten und befragen möchte: Warum mach ich etwas so und nicht anders?

Inzwischen hat sich eine Ahnung eingeschlichen, was zur Selbstbefragung hilfreich ist. Es sind – wenig überraschend – gerade die Abschweifungen. Aber verwirrend sind sie auch und obwohl sie mir den Einstieg erleichtert haben, führen sie nun dazu, dass ich nicht mehr weiter weiß. Inzwischen fällt es mir schwer, mich zu erinnern, worum es mir ging. Warum Derealisationen? Hatte ich damit begonnen, weil ich mir ein bisschen Freiheit verschaffen wollte? Weil ich nicht mehr Ich sein wollte?

Am Anfang war der Tod – meiner Freunde und die anschließende Unaushaltbarkeit der einstürzenden Weltgewissheit. Denn die war nichts anderes gewesen, als die selbstverständliche Voraussetzung am Leben zu sein. Das Leben selbst war bis dahin ziemlich selbstverständlich. Es ergab sich aus dem Alltag. Und aus Erinnerungen an die eigene Geschichte, die angefüllt waren mit Menschen, die fast alle noch lebten. Mir ist – sozusagen theoretisch – nie bewusst geworden, wie sehr das Gefühl der Lebendigkeit am Leben der anderen hängt, also an den Menschen (und Tieren), die das eigene Leben begleiten und erfüllen.

Dann aber, mit dem realen Verlust dieser Menschen, verlieren die Erinnerungen plötzlich an Farbe, werden grau und unscharf und so befremdlich wie ein altes Foto, auf das man schaut und sich sagt: Aha, das war ich also als Kind. Die Verbindung ist gekappt und wird immer weniger wirklich mit dem Tod der Menschen, die die frühere Existenz verbürgten. Das sind natürlich die Eltern und Großeltern, die Geschwister. Und die Freunde, die wir schon als Kinder hatten. Nur ist beim Tod der Freunde die Überraschung darüber, wie real das Sterben ist, noch viel gewaltiger. Auch wenn es vielleicht nicht betroffener macht, als das Sterben der Eltern, steht es doch näher zum eigenen Tod. Die einfache Voraussetzung, am Leben zu sein, ist plötzlich nicht mehr selbstverständlich. 

Wenn ich jetzt versuche, klar zu sehen, was die tiefe Erschütterung über den Tod der Freunde verursachte, dann ist es nicht nur der Verlust ihres Lebens, der so traurig machte. Vielleicht ist dieser mitleidige, empathische Anteil der Trauer, bei dem es wirklich darum geht, die Toten zu bedauern, weil sie ihr Leben verloren haben, sogar ganz unbedeutend im Gegensatz zu dem Trauergefühl, das wir uns selber schenken, ob des großen Verlustes, den wir erleiden mussten. Aber worin bestand der Verlust? Wohl darin, dass es die gemeinsame Welt, – selbst wenn sie fast nur noch aus Erinnerungen bestand – nun plötzlich nicht mehr geben soll. Mit dem Tod verschwinden nicht nur reale Menschen aus unserem Leben, sondern auch die Möglichkeiten fast schon fiktionale Vergangenheiten durch geteilte Erinnerungen wiederaufleben zu lassen. Mit dem Verlust dieser Möglichkeiten wird ein Teil der eigenen Geschichte unwiderbringlich irreal. Zwar lässt sich alles noch erzählen wie zuvor, aber durch den Mangel an Bestätigung gehört es jetzt zum Reich der Fiktionen, in dem der Realitätsbezug nur noch schwach empfunden wird. Und er wird schwächer, je älter man wird. Mit jeder für uns bedeutenden Person, die wir verlieren, nimmt also auch unsere eigene Bindung an die Welt ab. Unser eigenes Leben beginnt sich zu verflüchtigen, der Tod rückt näher.

Die Toten sind tot, sie benötigen unsere Empathie nicht mehr, das wissen wir. Aber wir, die wir trauern, können jeden Trost, den wir uns geben können, gebrauchen, um weiterzuleben.
Manche Trauer fühlt sich wie eine tödliche Krankheit an. Dass es danach weitergehen soll wie eh und je, erscheint unvorstellbar. Und obwohl die Trauer ihr Objekt natürlich in dem geliebten Toten hat, handelt es sich dabei um ein gespaltenes Objekt, man könnte sagen, es gibt ein inneres und ein äußeres Objekt, von dem uns nur das letztere auf Dauer erhalten bleibt. Dieses innere Objekt der Trauer hat mit der verstorbenen Person (also dem äußeren Objekt) nur insofern zu tun, als dass es die psychische Repräsentation dessen ist, was diese Person für uns bedeutete und was wir nach ihrem Tod schmerzhaft vermissen. 

Ein Mensch stirbt, er löst sich in seine Bestandteile auf und verschwindet, bis er real nicht mehr existent ist. Zurück bleibt ein Negativ seiner Existenz, das sich als Schatten seiner Abwesenheit bei den Menschen bemerkbar macht, die ihn vermissen. „Er fehlt“, heißt es dann und so ist es auch. An diesem Fehlen manifestiert sich die Bedeutung eines Lebens ebenso, wie in allem, was der Verstorbene an positiven Leistungen der Welt hinterlassen hat.

Ich bin mir nicht sicher, ob es eine eher persönliche Erfahrung ist oder ein allgemeiner Aspekt jeder Trauer, jedenfalls mein Verlust bestand auch darin, die Illusion verloren zu haben, dass wir noch Zeit hätten, wieder ein gemeinsames Leben führen zu können, das wir dann gestalten und aktiv führen würden, was auch meinte, die verlorene Zeit, die wir nicht gemeinsam verbracht hatten, wieder aufzuholen. Erst als ältere Männer vielleicht, die im Garten sitzend ihre Erinnerungen austauschen. Dieses Bild war für mich immer tröstlich. Aber wie es mit Illusionen so ist, sie werden von der Realität überholt, und wenn sie so sentimental sind wie meine, erscheinen sie nachträglich ziemlich lächerlich.

Mit ein bisschen Abstand (vom Anfang der Derealisationen) komme ich auch auf den Gedanken, es könnte sich um eine Angeberei, um eine aufgeblasene Rationalisierung meiner Traurigkeit handeln. Derealisationen? Ist das nicht genau das Gegenteil von „Trauerarbeit“? Die, wenn ich es richtig verstehe, doch eher eine Selbstforschung zum Zweck der emotionalen Stabilisierung des Trauernden sein soll. Während meine Idee darin bestand, von mir abzulassen, meine Identität und was ich dafür halten konnte, unsicher werden zu lassen und mir die Möglichkeit zu geben, jeder und alles zu sein, nur nicht ich. Das ist ziemlich verstiegen und wohl auch anmaßend. Aber für mich viel näherliegend, als ein ICH zu festigen, dass ich gerade nicht sein wollte. 

Ich erinnere mich an viele Reisen, an viele Landschaften, Städte und Dörfer und an immer die gleiche Frage: Wie ist es wohl hier zu leben? Was wäre, wenn ich hier aufgewachsen wäre usw? Es gibt keine wirkliche Antwort darauf, nur Fantasien und Einbildungen, die aber so groß werden können, dass sie zu einem anderen Leben führen. Nicht an diese Veränderbarkeit des Selbst glauben zu können, Angst davor zu haben und letztlich alles zu tun, um Veränderung zu verhindern, ist ein Symptom einer Krankheit, die zum frühzeitigen Tode führt – einem Tod, mit dem man noch viele Jahre leben kann.

Mir die Welt fremd werden zu lassen, sollte heißen, um den Tod zu kreisen. Jeden Gedanken, jedes Thema vor die Absurdität zu stellen, dass sich alles verändert und alles verschwindet. Das ist natürlich keine originelle Idee, Philosophie, Literatur, Kunst, irgendwie fast alles, was gedanklich über reine Funktionalität hinausgeht, führt letztlich zu diesem Punkt. Es ist aber, und darauf kommt es an, eine ganz persönliche Frage, wie nah man den Tod schon im Leben an sich heranlässt. Da sind Philosophie und Lesen oft eher Mittel, um sich eigene Gedanken vom Leib zu halten. Das macht es so schwierig, zu begreifen; obwohl Texte und Bilder uns den Tod zeigen, wie er sein könnte, sind sie zugleich eine ästhetische Form der Distanzierung. 

Wer schon mal Totenmasken gesehen hat, kennt vielleicht die Indifferenz des Gefühls, das ihr merkwürdiges Aussehen hinterlassen kann: Sie wirken menschlich und absolut individuell, aber eigentlich wie aus einer anderen Welt. Sie sind eher unheimlich, als berührend. An ihnen zeigt sich der Tod in seiner Fremdheit, nicht als das, was uns geschehen wird, sondern was Anderen zugestoßen ist. 
Vielleicht ist das gut so und man sollte es dabei belassen. Wie ich es allerdings erfahren habe, kann der Tod der Anderen das eigene Leben so weit in den Schatten stellen, dass es entweder in Stumpfheit oder in dauernder Traurigkeit versinkt. Das einfach geschehen zu lassen, wäre idiotisch, da erscheint der Versuch ein anderer zu werden gleich viel vernünftiger. Also weiter.

Derealisationen (7)

Ziemlich missverständlich: „die Bereitschaft, Fremdheit bestehen zu lassen, um sich näher zu kommen.“ (DR6) Das heiß nicht, die Anderen nicht auch mal ändern zu wollen. Sie im eigenen Sinne und Interesse zu beeinflussen (Was wäre sonst Politik?). Das seltsame therapeutische Dogma, immer nur sich selbst ändern zu können, ist Selbstaufgabe und Weltverneinung zugleich. Paartherapeutische Homöopathie! Oder sogar: Desinteresse am Anderen, getarnt als Toleranz. Außerdem bedeutet diese scheinbare Toleranz nicht, Fremdheit wirklich zu akzeptieren, sondern eher sie nicht mehr wichtig oder wahrzunehmen. Sie ist das Gegenteil von Empathie.

Fremdheit zu akzeptieren, hat mit einem Willen zur Veränderung erstmal gar nichts zu tun. Ob es nun das Selbst oder den Anderen betrifft. Akzeptanz des Fremden liegt sozusagen noch vor dem eigenen Wollen; sie besteht in der passiven Bereitschaft überhaupt anzunehmen, dass es vom Selbst Unabhängiges gibt.

Wer sich lieber als Teil von allem sehen will – biologisch, spirituell, kosmisch und so -, muss ja – paradoxerweise – erst annehmen, dass es von ihm Unterschiedenes gibt. Das psychologische Konstrukt des Selbst sollte daher als Medium verstanden werden, durch das Person und Welt miteinander vermittelt werden. Das Selbst ist die Öffnung zur Welt, die wir als Wesen mit Bewusstsein brauchen und – auch paradox –  zugleich das, was uns als eigenständiges Wesen vom Rest der Welt unterscheidet. 

Das heißt, dass wir uns nicht als Selbst begreifen könnten, gäbe es nicht die anderen, die auch ein Selbst sind. Und: Je empathischer diese Fremdwahrnehmung ist, desto besser lernen wir uns selbst kennen.

Derealisationen (6)

Warum sind Menschen als soziale Wesen geschaffen, wenn sie sich nur asozial verhalten können. Na ja, nicht nur, aber doch hauptsächlich, meistens, fast immer eigentlich. Empathie war eine schöne Erfindung psychologischer Theorie oder Prosa oder Fiktion. Oder gibt es das wirklich, dieses Mitgehen, zeitweise Aufgehen im Anderen, das Verlassen der eigenen Spur, um fühlend verstehen zu wollen, was im anderen Menschen vorgeht? Oder ist das eine Illusion. Humanistischer Kitsch?

Jedenfalls gibt es Empathie sicher nicht ohne Anstrengung. Man muss sich darum bemühen, es zu wollen. Die Voraussetzung für dieses Wollen ist eine allgemeine Weltzugewandtheit. Eine Offenheit, die die Menschen mit einschließen muss, da sie als Subjekte zwar irgendwie anders sind als man selbst und natürlich anders als die Objekte, aber sie sind eben Teile der Welt, die nicht zum eigenen Selbst gehören. Allein das zu realisieren, kann schon eine Kränkung sein: Alle anderen interessieren sich auch nur für sich selbst! Gut, man kommt drüber weg, wenn man will. Damit beginnt ja erst das eigene Mitmenschentum. 

Es ist irritierend, sich selbst – mal nicht den Anderen – als Mitmensch zu begegnen. Das bedeutet immerhin, von sich abzusehen und dass ohne wirklich hinauszukommen aus dem Zentrum der Welt, das man selbst ist. Vielleicht ist es auch eine Frage der Gewohnheit. Aber es muss sein, wenn man sich von der (Un)Menschlichkeit befreien will, die darin besteht, andere immer nur durch den Schleier der eigenen Bedürfnisse zu sehen.

Worin müsste die Bemühung um den Anderen bestehen? Eigentlich ist es einfach, aber dann doch zu viel verlangt: Gib alle Ansprüche auf. Auch wenn wir nur normalbedürftig sein sollten, also keine pathologischen Narzissten sind, ist es schwer, die Welt so zu betrachten, als wäre sie nicht als Objekt unserer Begierde geschaffen. Dass sie subjekthaft, eigenständig existiert, also ganz unabhängig von uns denkbar ist, darin besteht eine noch größere Kränkung als in der Erkenntnis des eigenen Mitmenschentums. „Denkbar“ deshalb, weil sie „erlebbar“ nicht ohne uns stattfinden kann. Das kann sie nur theoretisch. Nämlich nach dem Tod, der ja praktisch für den Sterbenden selbst nie eintritt.
Das Nachdenken über … ist deshalb so wichtig, weil es keine Distanz geben kann ohne den Schritt der denkenden Abstraktion. Keine Distanz zwischen uns und der Welt, was bedeuten würde – wie Mystiker gern behaupten -, dass wir mit allem eins wären. Das kann ja sein und macht Sinn, da wir als Körper Teil des allgemeinen Stoffkreislaufs sind, aber so erleben wir uns nicht. Das Gefühl der kosmischen Verbundenheit stellt doch eine psychologische Ausnahme dar gegenüber dem Normalerleben der Befremdung, die uns immer wieder fragen lässt, wo wir hier eigentlich hinein geraten sind. Ins Leben eben, ist die nichtssagende Antwort.

Sich bei diesen Fragen allein auf‘s Gefühl zu verlassen, ist Quatsch. Man sollte nicht der gängigen Verunglimpfung des Denkens als irgendwie lebensschädlich trauen. In bestimmten psychologischen Schulen und von Esoterikern  wird „das Fühlen“ gegen „das Denken“ in Stellung gebracht und zur einzig authentischen Regung des echten, also nicht theoretischen, Lebens überhöht. Bloß nicht zu viel Nachdenken, sich ganz auf das Gefühl verlassen und so weiter. Denken soll ein unnötiger Umweg sein. Aber wohin eigentlich? Wohin sind die Gefühle unterwegs? Und wo kommen sie her? Aus unserem „authentischen Selbst“, dem „inneren Kern unserer Persönlichkeit“ und so ähnlich. Einmal darüber nachgedacht, müsste eigentlich klar sein, dass es das alles gar nicht gibt. Jedenfalls nicht ohne denkende Abstraktion.

Wer sich nur auf sein Gefühl verlässt, schließt sich in sich selbst ein, und andere aus. Das reine Gefühl kann nicht von sich absehen. Es ist ganz bei sich, nie beim anderen. Es braucht den Bruch des Denkens, um sich selbst als getrennt von allem anderen zu erfahren. Und es in dieser Distanz eigenständig existieren zu lassen. 

Einfühlung in Andere ist möglich. Weder dürfen die Gefühle des Anderen ganz in den eigenen aufgehen, noch darf das Verlangen, den Anderen verstehen zu wollen, umschlagen in Gedanken, die seine Erfahrungen mit den eigenen abgleichen.  Empathie braucht die Bereitschaft, Fremdheit bestehen zu lassen, um sich näher zu kommen.

Und all das gilt auch für die autoempathische Selbstbeschäftigung. 

Metaneurose social media

Gut, dass es Greta Thunberg gibt. Wir brauchen solche Menschen. Menschen, die sich offen für ihre Überzeugungen einsetzen, ohne andere damit abzuwerten. Und die sich öffentlich angreifbar machen, auch auf das Risiko hin, dabei selbst kaputtzugehen. Oder – das ist wahrscheinlicher – von anderen zerstört zu werden. Greta sollte vielleicht nicht in die USA reisen, jedenfalls nicht ohne Personenschutz, obwohl es natürlich überall passieren kann. Hass kennt keine Grenzen. Er ist schon immer da, egal, wo man hinkommt. Inzwischen noch schneller, dank des großartigen Internets.

Was einmal die Öffentlichkeit war, nämlich sich gegenseitig beobachtende Medien, die vor den Augen eines interessierten Publikums verhandelten, welche Ansichten gesellschaftlich akzeptabel sind, diese Art der Öffentlichkeit gibt es nicht mehr. Das Band zwischen den „alten“ Medien und „der Gesellschaft“ ist gerrissen – oder, wie auch gern gesagt wird, „atomisiert“ worden: Die Explosion der digitalen Medien hat die Öffentlichkeit in unzählige winzige Partikel zerlegt. Und die Zellteilungen und Mutationen gehen weiter, ohne dass jemand sagen könnte, ob dieses Wachstum gut- oder doch eher bösartig ist. 

Es es ist ein alter Hut, dass Unübersichtlichkeit Menschen Angst macht. Die neue Medienvielfalt ist Furcht einflössend. Unkontrollierbar, das Ganze. Nichts für zwanghafte Charaktere (also schlecht für 98,5 % der deutschen Bevölkerung). Andererseits fällt es jetzt viel leichter, mal selbst den Mund aufzumachen, um der eigenen  Bedeutungslosigkeit zu entkommen. Das fühlt sich natürlich erstmal besser an, als immer das Maul halten zu müssen. Und seit die Leute entdeckt haben, wie gut es tut, andere Menschen zu verletzen, ohne mit echten Konsequenzen rechnen zu müssen, ist der Damm gebrochen. Hurra!

Da mitzumachen, bedeutet sich an den Rand des Wahnsinns zu begeben. Die Zahl der Verwirrten und Verbitterten, die sich unbedingt zu Wort melden müssen, scheint trotzdem unendlich groß zu sein.
Wer in der Lage ist, in den „Abgrund an Menschenverachtung“ zu schauen, den die sozialen Medien aufgerissen haben, und dabei gelassen zu bleiben, ist entweder ein weiser oder ein zynischer Mensch. Es ist kaum auszuhalten. Ganz egal, was man oben hinein wirft, unten kommt immer das Gleiche raus: Der offenbar nicht zu bändigende Drang recht behalten zu wollen. Es ist an Einfältigkeit nicht mehr zu überbieten, wie Foristen und Kommentatoren von „Der Wahrheit“ sprechen. Die ist natürlich nichts anderes als die eigene Meinung, die sich endlich mal jemand getraut hat auszusprechen. Das kann eigentlich nicht wahr sein. Fällt denen das nicht auf? Früher ahnte man nur, wie viel Dummheit in der Welt ist, heute kann man sich jederzeit davon überzeugen.

Die vielen „Wahrheiten“ da im Internet erheben selbstverständlich alle einen allgemeingültigen Anspruch, darunter geht es nicht. Wer einmal ins Licht gesehen hat, lässt sich nicht mehr täuschen; die Quatschköpfe sind quasi alle erleuchtet. Oder verstrahlt, kommt darauf an, wie sehr man von der Heiligkeit der eigenen Meinung überzeugt ist. Wer es anders sieht, ist uneinsichtig. Mindestens! Ein Idiot. Der Feind. In schlimmen Fällen wird ihm dann der Tod gewünscht, in den schlimmsten bleibt es nicht beim Wunsch.

Die „geheime Feindseligkeit“, die der Psychoanalytiker Wilhelm Reich bei all seinen Patienten entdeckte, sie lag hinter einer Schicht vordergründiger Freundlichkeit verborgen, identifizierte er als Ausdruck der Ich-Abwehr, also als eine Funktion jener Instanz, die zwischen der äußeren und der inneren psychischen Realität zu vermitteln hat. Diese mittlere Instanz nennt man bis heute „das Ich“. Ihm fällt die Aufgabe zu, Triebspannungen möglichst gering zu halten, für inneren Ausgleich zu sorgen. Dafür stehen dem Ich ein Reihe Abwehrmechanismen zur Verfügung, deren destruktive Anteile desto höher sind, je geringer die psychische Reife der betreffenden Person ist. Besonders aggressives, projektives und verleugnendes Abwehrverhalten wird auf einen niedrigen psychischen Reifungsgrad zurückgeführt.

Es fällt nicht schwer, diese Formen der Abwehr in den Kampfstilen der sich seuchenartig ausbreitenden Kleinkriege in den sozialen Medien wiederzuerkennen. Sie sind dort von geheimer in offene Feindseligkeit umgeschlagen. Es liegt also nahe, diese unsäglichen und unendlichen Kommunikationen zu pathologisieren. Welcher geistig wirklich gesunde Mensch könnte je die Energie aufbringen, seinen Mitmenschen unbedingt den eigenen Willen aufzwingen zu wollen? Nur was bringt es, eine Krankheit aus der „offenen“ Feindseligkeit zu machen, die in den meisten sozialen Medien inzwischen herrscht? Sie erscheint krankhaft, aber was steckt dahinter? Die sozialen Medien modellhaft als eine Art externalisiertes psychisches System zu betrachten, könnte zumindest dazu dienen, das Problem der Feindseligkeit als psychische Abwehrreaktion zu identifizieren. Und es somit als potentiell heilbar zu begreifen, jedenfalls wenn man an die „talking cure“ der Psychoanalyse glaubt.

Es wurde schon oft festgestellt, dass die Anonymität im Internet rabiates Verhalten im Umgang miteinander fördert. Allerdings haben das auch schon frühere Medien möglich gemacht, man denke an belästigende Telefonanrufe. Was dem Telefon dabei fehlte, war das den sozialen Medien eigene Angebot, sich ganz einfach in immer schon laufende Kommunikationen einklinken zu können. Eine gerade für Neurotiker, die auf schnelle Triebabfuhr aus sind, nahezu unwiderstehliche Aufforderung. Und natürlich ist die Attraktion, sich einer Instant-Öffentlichkeit zu präsentieren, wie sie in den sozialen Medien geboten wird, ein weiterer Anreiz ständig mitzureden – anonym oder nicht. Es scheint sich viel normaler anzufühlen, vor einer unbekannten Menge die eigenen Störungen auszubreiten, als zum Hörer zu greifen und bei nur einer armen Person die angestauten Triebenergien abzuladen. Telefonterror war eher eine Abweichung von der Norm, das kann man von den Totalausfällen im Internet nicht mehr sagen.

Es ist nicht die Anonymität, die letztlich verantwortlich ist für den Absturz der sozialen Medien in die Barbarei. Zivilisierten Menschen gelingt es in der Regel auch unter Fremden, dort, wo man sich nicht kennt, ein sozial verträgliches Verhalten an den Tag zu legen. Außerdem ist zunehmend zu sehen, dass sich immer mehr Personen, die marodierend durch’s Netz ziehen, nicht mehr verstecken; Popularität ist wichtiger als Anonymität. Für einige, die irgendwann einmal relativ vernünftig begonnen haben, die dann aber vom freigesetzten Hass infiziert wurden, ist es einfach zu spät, um sich hinter Pseudo-Identitäten zu verbergen. Jetzt geht es eben immer weiter. Viele begreifen, in der Dauerschleife aus empörter Erregung und ekelhaften Absonderungen, in der sie Opfer und Täter zugleich sind, gar nicht, wo sie hinein geraten sind.

Freud formulierte es so: „Das Ich ist nicht Herr im eigenen Haus“. Es steht unter ständigem Druck und wird von zwei Seiten in die Enge getrieben. Das Unbewusste drängt von unten, die unerfüllten Triebe wollen endlich ausgelebt werden. Von oben hält das Über-Ich mit triebversagenden Regeln und Gesetzen dagegen, um die gesellschaftliche Konformität des Individuums zu sichern. Dazwischen fällt es schwer, Position zu halten, leichter ist es, mit allen unausgestandenen Konflikten in den externalisierten psychischen Raum des Netzes weiterzuziehen. Da ist der äußere Feind auf den ersten Blick zu erkennen. Feuer frei!

Da alles irgendwie mit allem zusammenhängt, tritt die Ahnung der endgültigen Vernichtung durch die Klimakatastrophe, durch den wachsenden Ressourcenverbrauch und die damit verbundenen Verteilungskriege, zugleich mit der dystopischen Verwandlung der sozialen Medien auf. Deren Idee, Menschen zu verbinden, ist ins Gegenteil gekippt. Von der seltsamen Utopie einer fröhlich plaudernden technologischen Weltgesellschaft ist in der Realität ein kommunikatives Kriegsgebiet übrig geblieben. War doch nicht so easy aus Fremden virtuelle Freunde zu machen. Die Kalifornische Ideologie ist katastrophal gescheitert. Trotzdem gehen die ehemaligen Techno-Hippies – und heutigen Business-Götter – immer weiter mit der digitalen Fiktionalisierung der Gesellschaft. Mehr vom Gleichen: Wenn irgendwann jeder zu allem seine Meinung gesagt hat, ist kein Gespräch mehr möglich. Alle glauben nur noch sich selbst, jeder ist sein eigener Gott. Und es gibt 12 Milliarden verschiedene Sneaker-Marken. California Über Alles!

Diese Entwicklung ist nicht mehr umkehrbar. Ist das so? Wahrscheinlich.
Kein Einspruch also gegen die Hoffnungslosigkeit, nur eine letzte Idee, um es mit Greta Thunberg zu sagen: „There is no hope!“ Es macht keinen Sinn, auf die Einsicht derer zu warten, die in unsinnige Kämpfe und falsche Ideologien verstrickt sind. Es braucht auch keine Hoffnung und es ist nicht notwendig, die hoffnungslosen Fälle – die Profiteure des Status quo – zur Einkehr zu bewegen, es braucht nur den Wunsch, nicht genauso destruktiv sein zu wollen wie sie: Die vielen kleinen Akte der Zerstörung, gegen sich selbst und andere, nicht mehr mitzumachen. Manchmal ist dafür nicht mehr nötig, als einen Moment innezuhalten und darüber nachzudenken, wie man sich verhalten möchte. Und ob es überhaupt dringend geboten ist, sich überall einzumischen. Manchmal muss es sein, meistens nicht.

„Zen fascists will control you„ (Dead Kennedys)
I would prefer not to.

Derealisationen (3)

Es ist doch eine ziemliche abwegige Idee: Dass der Vater schützend vor dem Sohn stehe und dessen Unbewußtes gegen die Angst vor der eigenen Sterblichkeit abschirmt (siehe DR 2). Das Gegenteil ist wohl eher der Fall. Der Vater bedroht die kleine, symbiotische Welt des Muttersohns. Als Beschützer hat der „gute“ Vater das Kind vor allem vor dem Vater selbst zu retten.

Die meisten Väter, die ich kenne, sind selbst nicht erwachsen. Trotzdem bestehen sie darauf, ihren Kindern die Realität beizubringen. In Form von Regeln und unnützen Geschenken. Als wären Männer, die Väter sind, noch weniger in der Lage, über sich selbst nachzudenken. Und über Gesellschaft ja sowieso nicht. Für Kritik sind sie zu beschäftigt. Mit Erziehung. Und Arbeit. Es ist ein trauriger Witz, wie sie mit ihrem Realitätssinn, den man auch Sorge nennen kann, erst selbst zu Idioten werden und dann ihre Kinder zu welchen machen. Da hat sich die gesellschaftliche Disziplinartechnik „Angst“ perfekt in die Biologie eingeklinkt: Sobald Kinder da sind, dreht sich alles nur noch um Versorgung – die muss von Anfang bis Ende und möglichst sofort gesichert sein. Beste Babyausstattung, frühkindliche Ausbildung (Babyyoga, Geige, Sport, Fremdsprachen und alles, was das enorm plastische Hirn verarbeiten kann, weil später ist der Zug schon abgefahren), private Schulen, Uni, Beruf, Rente, Pflege, vorfinanzierte Beerdigung.

Kann es sein, dass eigene Kinder, so wie sie in unserer Gesellschaft gerade instrumentalisiert werden (nämlich als kleine Konsumgötter, die nur das Beste verdient haben), das einfachste Mittel sind, um Menschen zu Reaktionären zu machen? Es braucht jedenfalls großen Mut, für das eigene Kind nicht „das Beste“ zu wollen. Davor steht die Erkenntnis, dass das derzeit Beste nichts anderes ist, als eine Einübung in Konformität. Statt vor Schreck aufzuschreien, nicken die Eltern, die ich kenne, bei diesen Aussichten beruhigt ein. Hauptsache das Kind ist versorgt. Es sind ja unsichere Zeiten.

Zu den Vielen gehen (lat. „ad plures ire“ für sterben)

Als Kind war ich begeistert von Flugzeugen. Ich fand die Dinger schön und das Abenteuer reizte mich. Die Technik hat mich nie interessiert. Später bekam ich dann Angst vorm Fliegen. Alle Flugzeuge, die ich je betreten habe, waren ziemlich hässlich, jedenfalls wenn man genauer hinsah: Weiße Rümpfe mit bunten Streifen und Schmutzschlieren und Rost, von den schäbigen Kabinenausstattungen ganz zu schweigen, Schalensitze aus Plastik, überall nur Kunststoff. Sie hatten natürlich nicht die geringste Ähnlichkeit mit den fliegenden Silberpfeilen aus der Pionierzeit der Luftfahrt, in die ich mich damals lesend hinein fantasierte. Beeindruckt von den vorsintflutlichen Maschinen und fasziniert von den Piloten, die auf verblichenen Fotos in seltsamen Hosen, schicken Jacken und Lederkappen neben ihren Fluggeräten posierten, hatte ich mir das Fliegen immer wie eine persönliche Heldentat vorgestellt.
Schon vor meinem ersten Flug, ich war so 10 Jahre alt und mit Papa und meinem Bruder auf dem Weg nach Italien, kamen mir erste Zweifel. Nichts deutete daraufhin, dass ein Abenteuer bevorstand, die anderen Leute am Check-In freuten sich nicht, sie hatten auch keine Angst, sie waren einfach an das Fliegen gewöhnt. Auf dem Flughafen in Neapel war es – obwohl ich die Alpen und sonnige Wolkengebirge von oben gesehen hatte – dann vorbei. Nicht, dass es mir damals klar gewesen wäre, aber meine Geschichte der Luftfahrt endete bereits nach diesem einen Flug. Noch am selben Tag stand ich im Hafen von Neapel und staunte über die kleinen Fischerboote und fand die Fischer ganz toll, die ruhig ihre Netze flickten, wo sie doch gerade draußen auf dem Meer ihr Leben riskiert hatten. Ich wollte dann Taucher werden. Unten herum schweben bei den Fischen, und las die Bücher von Jacques Cousteau und sammelte Klebebildchen für das Hans-Hass-Album “Vorstoß in die Tiefe”. Das Sammelalbum und die Bilder dafür wurden an Esso-Tankstellen verkauft, die zum Ölkonzern ExxonMobile gehörten. Vielleicht war der Graben zwischen Umweltschützern und Ölkonzernen damals noch nicht so tief, heute ist Exxon vor allem bekannt für die katastrophalsten Tankerunglücke, die die Welt gesehen hat.
Und Hans Hass ist tot (16. Juni 2013).

“Der Traum vom Fliegen” ist, glaube ich, immer so eine Kindersache gewesen. Solange er nicht wahr geworden war, haben ihn manche der großen Jungs und Mädchen weiter geträumt. Das ist natürlich vorbei. Wenn die Industrie etwas gründlich zerstört hat, ist es – neben der Natur – die Möglichkeit vom Unmöglichen zu träumen. Sie macht ja früher oder später alles möglich. Und zwar für jeden von uns.
Nebenbei wurde ihr alles geopfert, was wirklich wertvoll ist: Menschen, Landschaften, Dörfer und Städte, das Meer und vor allem das, was man vielleicht das “Soziale” nennen kann: die nichtökonomischen Beziehungen, die Gesellschaft erst erträglich machen.

Ob es früher besser war? Das interessiert mich so wenig wie Flugzeugtechnik. Jetzt jedenfalls ist es nicht gut und nach der Zersetzung der natürlichen Lebensgrundlagen verbreitet sich vor allem Angst. Keine kindliche Angst vor Monstern, eine erwachsene, die sich überall einschleichen und alles besetzen kann und die zum eigentlichen Lebensgefühl wird, ohne ihre Ursachen zu verraten.
Jeder hat eine Therapie nötig. Und die Psychoindustrie hält für jede Angst passende Angebote bereit: Flugangst kann man selbstverständlich auch therapieren.

Bei mir ist die Flugangst mit den Jahren einfach so verschwunden, wie auch meine kindliche Leidenschaft für’s Fliegen verschwunden ist. “Verschwunden” trifft nicht ganz zu, sie wurde ersetzt: Für die Angst vor dem Sterben brauche ich heute keine Flugzeuge mehr. Sie kommt jetzt zu mir durch den Tod der Menschen, die ich geliebt habe. Sie beginnen langsam auszusterben.
Auch der Wunsch zu fliegen, ist nicht einfach verschwunden. So wie ich damals davon geträumt habe, wirklich im Schlaf geträumt habe, abzuheben, zu schweben und höher zu steigen und mit einem unbeschreiblich aufregenden Gefühl über meine Stadt und immer weiter zu fliegen, so träume ich heute davon, meine Toten wiederzutreffen. Nichts wünsche ich mir mehr und nichts ist “kindischer”, also unmöglicher, als das.
Noch ist keine Industrie in Sicht, die diesen brennenden Wunsch erfüllen könnte.  Es bleibt uns nur selbst zu den Toten zu gehen, dorthin, wo sie mit Sicherheit nicht sind, wo sie sich aber finden lassen, in den Träumen und Wünschen, die eben nicht von einer Realität besänftigt werden, die öde und fertig industrialisiert ist. Die Toten sind da, wo wir sie haben wollen. Mit einer Ausnahme: Sie sind nicht mehr unter uns Lebenden.
Diese eine Ausnahme, die nicht irgendeine, sondern die entscheidende Ausnahme ist, muss man lernen auszuhalten. Irgendwie. Was es bedeutet, damit nicht zurecht zu kommen, kann man an den vielen Zynikern sehen, die das Leben selbst nicht zu schätzen wissen, weil es zu schmerzhaft ist. Zynisch ist es, alles Lebenswerte zu entwerten, weil es sterben wird.

Wer nicht zu früh stirbt, kommt irgendwann an den Punkt, an dem sich die eigenen Kreise, die bis dahin größer und größer wurden, wieder zusammenziehen. Die Möglichkeiten nehmen nicht mehr zu, sie nehmen plötzlich ab. Besonders schmerzhaft sichtbar wird das, wenn Freunde und Verwandte sterben, mit denen man eng verbunden war. Ein Teil des eigenen Lebens verschwindet mit ihnen und wird ersetzt … ja, durch was? … durch Traurigkeit und Erinnerungen? Das ist schwer auszuhalten.
Es ist schon keine geringe Anstrengung, die Toten nicht dafür zu verachten, dass sie gestorben sind. Dafür, dass sie uns zurücklassen mit Schmerzen, die sie uns als Lebende nicht zufügen konnten. Die Toten machen das eigene Leben schwerer und schwerer. Davor keine Angst zu haben, ist ja fast nicht möglich. Für diejenigen, die nicht vergessen wollen, gibt es keine andere Möglichkeit, als das zu ertragen.

 

Für Stefan und Bakri.

„Der Mensch ist ein System von Begierden, das durch ein System von Ängsten temperiert wird.“

Paul Valéry, Cahiers

Bombodrom

Die Bombe ist ein unfassbares Monster, es wäre besser, es gäbe sie nicht. Aber was wäre dann: Metaphysik statt Physik?

Meine allgemeine Verfassung, oder wie nennt man diesen Zustand, der irgendwann nicht mehr weggeht, der dann die sogenannte “Persönlichkeit” sein soll, mit der man fortan klarkommen muss, etwa so wie mit der Akne, die ich bis dahin für ein großes Problem gehalten hatte, dieses Ding also setzte sich zusammen oder wurde von Grund auf umkrempelt, ich muss sagen, eigentlich weiß ich nicht, wie das genau ablief, dieses Ding entstand in einer Zeit, die – von heute aus gesehen – ziemlich normal war, würde ich sagen und die mir weniger irre vorkam, denn das damalige pubertär-katastrophische Grundgefühl war sowieso eingebettet in einen zeitgeistigen Alarmismus, der mir, so sah ich das jedenfalls, das Recht gab, spätestens mit 14, alle Hoffnungen auf ein langes, gesundes – GLÜCKLICHES – Leben frühzeitig zu begraben: Atomtod, Waldsterben – zuerst der Wald, dann DER MENSCH -, ja, der saure Regen, keine Ahnung, was aus dem geworden ist, der Wald steht aber noch, soweit ich weiß; das Fischsterben, wir durften als Kinder keinen Zeh in die Elbe stecken, und dann der Nato-Doppelbeschluss, das endgültige Ende, das sichere Todesurteil, Fegefeuer, … oder wie man damals noch sagte: atomarer Holocaust.

Mir jedenfalls machte das keine Angst. Es raubte mir nur jeden Lebensmut. Und: Ich wartete jeden Tag, Woche für Woche, Monate, letztlich viele Jahre darauf, dass es jetzt endlich mal passiert, dass die Sorgen ein Ende hätten, das einzig mögliche Ende… ich sah mich als Brandschatten an einer Ruinenmauer enden, wie ich es in einem Film über Hiroshima gesehen hatte: schwarze Umrisse menschlicher Körper, geisterhafte Negative, festgehalten vom atomaren Blitz im Moment des Verglühens. Damals kannte ich auch schon die Fotografie der verbrannten nackten Kinder, die weinend vor dem Napalm durch’s Reisfeld fliehen und auch die Filmaufnahme, die einen vietnamesischen Offizier zeigt, der einen vor ihm knienden Soldaten durch Kopfschuss tötet.

Im Berufsinformationszentrum sollte ich mir einen Beruf aussuchen. Ich dachte an Fotograf – man nahm wohl an, ich hätte nicht verstanden: Einen richtigen Beruf bitte, keine Traumtänzerei. Außerdem, die schlechten Augen, schon zwei Operationen, das schließe sich selbstverständlich aus. Gut, dann eben kein Beruf. War sowieso nicht meine Idee, arbeiten zu müssen. Wozu auch? Um den Atompilz zu fotografieren?
In den Schulstunden kritzelte ich kleine Notizhefte voll, ich konnte nicht gut zeichnen, aber der Atompilz war einfach, und der Rest der Seite wurde mit dem Anarcho A aufgefüllt, das passte gut zusammen und gab meine gesamte Weltanschauung wieder, mehr war nicht nötig, und nach einer Stunde wusste ich immerhin, was ich getan hatte: Die Welt war mir endlich scheißegal.

“Wach endlich auf”, sagte mein Klassenlehrer, der später für die SPD im Hamburger Senat saß. Halt die Schnauze, hätte ich gern geantwortet, und dass er die Finger von den Mädchen lassen soll. Bei den Hübschen, die schon entwickelt waren, griff er gern mit einem Finger in der Ausschnitt, zog ihnen das Shirt ein bisschen vom Körper ab und glotzte von oben auf die Tittchen, wie er das nannte. Er schämte sich nicht, er machte das auch in Gegenwart anderer Schüler, hauptsächlich der Jungs, denke ich, denen er damit vielleicht auch zeigen wollte, was ein Mann sich so alles erlauben darf.
“Wach auf”, ich hatte noch nie nackte Brüste gesehen, nur auf Bildern, ich hatte ihn schlagen wollen für sein schäbiges Verhalten, und wollte weiterschlafen, wenn es das bedeuten sollte, wach zu sein: ein grober, widerlicher Mensch.

Aufwachen also. Realistisch sein. Er hätte auch sagen können: “Werd mal Erwachsen”. Alles nicht mehr so schlimm finden; sich ein dickes Fell zulegen; die ständige Empörung ablegen, nicht immer gleich alles Skandalisieren; als Erwachsener weiß man, das gehört dazu; mit der Vernunft lässt sich erklären, wie es dazu kommt, nicht im Einzelnen natürlich, da bleibt alles unverständlich, sie ist nur die Instanz, die uns damit beruhigen kann, nicht mehr verstehen zu wollen: Verstehen wollen – ist unvernünftig.
Gewalt gehört dazu, Sex gehört dazu, Leid, Betäubung, Zerstörung, Schmerzen, der ganze Wahnsinn derjenigen, die sich für Realisten halten, die wach sind, und die sich nehmen, was sie kriegen können, Machtmissbrauch gehört dazu, und die auf ihr Recht bestehen, GLÜCKLICH sein zu wollen.
Ich verabscheue diesen Realismus.

Ziviler Gehorsam

Etwas stimmte nicht. Ich schlief noch, oder wurde gerade wach, jedenfalls hatte ich schon schlechte Laune, bevor ich wieder ganz bei Bewusstsein war. Der Lärm war höllisch. Ein Hubschrauber stand über dem Haus, ich riss vor Schreck die Augen auf.
Gestern war es heiß gewesen und es war noch immer warm und ein bisschen feucht. Durch das offene Fenster drang der Geruch von Gras ins Zimmer, frisch gemähtem Gras, und der Höllenlärm schwang sich von einer Wand zur anderen durch mich hindurch, als wäre ich ein wackeliges Stück Gallert, ein besonders weiches Ziel. Ich stützte mich auf, vom Kopfende zum Fensterbrett, sah die Rotoren wirbeln und unseren Hausmeister, der gerade den Rasenmäher steil auf die Hinterräder stellte, und wie er ihn im nächsten Moment nur mit einem Schwung aus der Hüfte wendete, um rasend schnell, ohne einmal abzusetzen, in die Gegenrichtung unter der riesigen Kastanie zu verschwinden. Es war eine Bewegung aus einem Guß, geschmeidig, könnte man sagen, wäre das Gerät nicht so sperrig gewesen. Er hatte Mühe es im Griff zu halten.
Verärgert wollte ich ihm etwas zurufen, aber mir fiel nichts ein. Es hätte nur unnötigen Streit bedeutet. Trotzdem dachte ich darüber nach, was ich rufen könnte, aber nicht rufen würde, weil der Hausmeister ein kluger, netter und hilfsbereiter Mann war, der keine Beschimpfung verdient hatte, und mir fiel ja sowieso nichts ein, außer – seltsamerweise – “Keine Gewalt”. Was soll das?, dachte ich. Wie unangemessen, schließlich hatte man mir nichts angetan, andererseits fühlte ich mich ziemlich gequält. “Keine Gewalt”, die Formel der Hilflosen, und der Demonstranten, die sich nicht vertreiben lassen wollen, aber die natürlich immer, immer verlieren, weil sie nicht kämpfen mögen.
Das nächste Mal könnte ich ein Plakat aus dem Fenster hängen, ein Versuch ist es wert, dachte ich. Vielleicht hätte der Hausmeister sogar Verständnis dafür. Nur ändern würden zwei Worte natürlich nichts.

Hegemoney

Gestern wusste ich mal wieder nicht, wohin mit dem ganzen Geld.
„Dieses Mal ist es noch mehr“, sagte der Lieferant und schleppte ein Dutzend schwarze Müllsäcke vor meine Wohnungstür.
„Wohin damit“, fragte er. „Tja, wohin damit“. Wir gingen hinein und standen dicht beieinander auf dem kleinen Fleck, der mir als Lebensraum geblieben war, in der Mitte des Wohnzimmers, in dieser dunklen Höhle, umgeben von schwarzen Säcken, die an allen Wänden bis unter die Decke wuchsen. Selbst die Fenster waren dicht gestellt, das hatte ich bis zuletzt zu verhindern versucht, irgendwann musste ich mich der bösartigen Wucherung, die meine gesamte Wohnung, ausgehend vom Stauraum unterm Bett, befallen hatte, ergeben und die letzten Bastionen fallen lassen: Die Badewanne, die Fensterwände, drei Säcke hatte ich inzwischen mit ins Bett genommen. Das hätte ich ruhig früher machen können, ich hielt das Bett lange für meinen letzten unantastbaren Rückzugsraum, dann stellte ich fest, dass es sowas für mich nicht mehr gab und nahm ein paar Säcke mit hinein; es schlief sich gut mit ihnen.
Wir standen gedrängt beieinander, er, stämmig, klein, einen Sack auf jeder Schulter, ich, lang, dünn und gebogen, ratlos mit der Taschenlampe funzelnd.
„Und nun“, fragte er und sah mich von unten her ängstlich an. Es war bedrohlich hier, ich fühlte mich natürlich auch nicht wohl, zwischen den dicht gestopften und verschlungenen Innereien meines Geldbergs. Möglicherweise bestand Einsturzgefahr. Im schwachen Licht glänzte die dünne Plastikhaut feucht und ungesund, das Raumklima war furchtbar, uns fiel das Atmen schwer.
„Raus hier“, krächzte ich. Mir schlug das Herz im Hals, die Brust schmal und von schweren Gewichten bedrückt, versuchte ich nicht ohnmächtig zu werden. Atmen, sagte ich mir, einfach weiter Atmen, das geht vorbei. Dem Lieferanten ging es auch nicht gut. Er ließ sich das nicht zweimal sagen, die Säcke glitten zu Boden, und er huschte mir voraus durch den engen Gang zum Flur und weil es dort nicht besser wurde, ins Treppenhaus, wo wir durchschnauften, als wären wir mit letzter Luft aus großer Tiefe aufgetaucht.
„Schrecklich“, sagte er nach einer Weile. Ich nahm mein Handy zur Hand und rief meinen Bruder an.
„Hast du noch ein Plätzchen frei“, fragte ich. Er hatte wohl geahnt, weshalb ich ihn anrief, jedenfalls kam seine Antwort, ohne zu zögern: „Bleib mir vom Leib“, rief er, „ich weiß selbst nicht, wohin mit dem Zeug.“
„Es ist aber ein Notfall“, sagte ich. „Ich hol es auch bald wieder ab, ich lass dich ganz bestimmt nicht darauf sitzen. Nur noch dieses eine Mal“, flehte ich und schämte mich nicht dafür, dass meine Stimme bebte, mir kamen die Tränen.
„Ich kann dir wirklich nicht helfen“, antwortete er, einfühlsam, weich, brüderlich im Tonfall, aber in der Sache blieb er hart. Es hatte keinen Zweck.
Ich war auf mich allein gestellt. Niemand konnte mir jetzt noch helfen. Ich fühlte mich verlassen, einsam wie noch nie. Dann sah ich den Lieferanten an, er war ja noch da, saß auf dem Treppenabsatz und wartete geduldig. Ein braver, subalterner Geist, der nur Befehle ausführte, das ganz sicher, aber ich konnte nicht anders, als wütend auf ihn zu werden. Warum machte er mir solche Probleme?
„Können sie die Lieferung nicht einfach wieder mitnehmen?“, fragte ich, obwohl ich die Antwort kannte.
„Das kann ich nicht machen, das bleibt an mir hängen, dann kann ich gleich einpacken.“
„Nehmen sie es doch mit nachhause“, versuchte ich es nochmal.
„Das geht wirklich nicht“, sagte er, „bei mir wird es auch immer voller.“
„Wir lassen es erstmal hier im Treppenhaus stehen“, sagte ich und sah, wie erleichtert er war.

Am nächsten Morgen war alles noch da, bald würden sich die Nachbarn beschweren.
Ich ging die Straße runter ins Café, ich brauchte Zeit, um nachzudenken. Vor den Häusern lagen Säcke auf großen Haufen. Einige waren aufgeplatzt, einzelne Scheine wurden vom Wind heraus gezerrt und wirbelten zusammen mit dem Herbstlaub über den Gehweg. Bald würde es kalt werden, es lag so etwas in der Luft. Der Kaffee war sehr gut und kostete 1 Cent. In die Supermärkte zu gehen, hatte auch keinen Zweck, dort gab es seit Wochen die „Alles-umsonst-Tage“.
Wieder zuhause, gelang es mir nicht die Wohnungstür zu öffnen. Nur kleiner Spalt tat sich auf, ganz gleich, wie stark ich drückte, die Tür gab immer nur ein paar Zentimeter nach, bis sie aufgehalten wurde vom Gewicht der dahinter versammelten Masse. Die Höhle musste eingestürzt sein. Ich dachte kurz nach, was nun zu tun sei, dann ging ich in den Keller, nahm meinen Schlafsack und wechselte die Schuhe; meine alten Wanderstiefel wären für die kommenden Herausforderungen sicher besser geeignet, dachte ich. Dann ging ich rüber in den Volkspark, den ich schon lange nicht mehr aufgesucht hatte, dabei lag er gleich auf der anderen Straßenseite. Viel hatte sich nicht verändert. Das Café stand jetzt leer. Vielleicht war der Pächter gestorben oder die Geschäfte liefen nicht mehr. Hinter der Baracke suchte ich mir ein ruhiges Plätzchen im Gebüsch und rollte meinen Schlafsack aus. Erstmal durchatmen, dachte ich, und fühlte mich schon viel freier – ohne meine Geldprobleme.

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