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Lost in Media

Kategorie: Gelesen (Seite 1 von 2)

Derealisationen (5)

Neulich las ich in „Die Vögel“ von Andrej Bitow folgendes
Wir leben auf dem Grund eines Luftozeans… Am wogenden Himmel schwimmt ein Vogel, er rührt kaum die Flossen.
Und
In einer seltsamen Weise sind die Vögel in unserem Leben abwesend, wiewohl man sie zweifelsfrei mit unbewaffnetem Auge beobachten kann. Als ob sie am Rand unseres Bewusstseins flögen…

Das ist wahr. Dafür muss man nur die Welt auf den Kopf stellen. Im Grunde dreht er nur an ein paar Wörtern, um unsere gewohnte Sichtweise zu kippen … ein Fisch fliegt vorbei, er rührt kaum die Flügel.
Wo führt das hin, nach innen: „Als ob sie am Rand unseres Bewusstseins flögen“. Darum geht es also? Was sich am Rand unseres Denkens bewegt? Flüchtige Gedanken. Die Vögel unter den Bewusstseinsinhalten. 

Ich muss an die Spatzen denken, die um die Café-Tische hüpfen oder hüpften, weil es nur noch selten vorkommt, und was für einen lustigen Anblick sie boten, als wären sie nur gelandet, um Unfug zu machen. Und wie überraschend es immer war, plötzlich von einer Schar Vögel umringt zu sein. Als ob ihr da sein, gerade erst bewusst würde. Eine nette Überraschung, und ihr Ausbleiben fällt zwar kaum auf, macht das Dasein aber unauffällig trauriger.
Es fehlt etwas, ohne dass wir uns daran erinnern müssten. Abgerutscht über den Rand des Bewusstseins. Es bleibt spürbar. Und wie bei jedem unbeachteten Verlust rücken wir ein Stück weiter in die Mitte unseres Bewusstseins, die nur das Allergewöhnlichste enthält: Die uns bekannten Tatsachen. Die Überraschungen bleiben zunehmend aus. Der Charakter festigt sich. (Bis sich das Gefühl einstellt, von einem Alien übernommen worden zu sein. Dann ist man endlich erwachsen).

Um zu den Gewissheiten zurückzukommen (siehe DR4), muss ich von hier – den Vögeln, dem Bewusstsein usw. – nicht weit ausholen. Ich war mir immer sicher, denkend verstehen zu können, zu müssen eigentlich, um nicht unterzugehen. Die größte Kränkung bestand darin, zurückgewiesen zu werden, weil ich etwas dachte, dass andere nicht dachten oder es für unwichtig oder sogar dumm hielten. Trotzdem habe ich mich mit meinen Gedanken oft vorgewagt und wurde dafür nicht selten abgestraft. Als arrogant, als Spinner, Grübler, Kopfmensch, als „Ach, ein Philosoph“ und so weiter. Das traf mich härter, als unerwiderte Gefühle. Die konnten mich kaum verletzen, da ich meine eigenen sowieso nicht zu zeigen traute. Was sollte ich da erwarten? Große Leidenschaft – wohl kaum. Ohne darüber nachgedacht zu haben, wusste ich auch nie, was ich gefühlt hatte. Das ist immer noch so. Nur denke ich heute darüber häufiger nach.

Die Gewissheit, verstehen zu können, weil ich es will, – natürlich nicht alles, nur das, was mir liegt -, sollte ich vielleicht, meinem Programm folgend, mal auf den Kopf stellen (also: derealisieren = fremd werden lassen). Möglicherweise ein Weg in die Selbstverblödung. Ich weiß auch nicht, wie es gehen soll, einfach mal nicht verstehen zu wollen. Sich dumm stellen. Aber eine Verstellung soll es nicht werden.

Abwarten, vielleicht fliegt dazu bald eine Idee am Rand meines Bewusstseins vorbei. Da schau ich jetzt genauer hin.

„Der Mensch ist ein System von Begierden, das durch ein System von Ängsten temperiert wird.“

Paul Valéry, Cahiers

Post Mortem Politics IV

Wie gern hätte er noch seinen Freund Viktor Orban (Kohl über Orban) an seinem Grab gewusst. Immerhin hatte dieser ihn im April 2016 in Oggersheim besucht. Kohl hatte im Vorwort zur ungarischen Ausgabe seines Buches “Aus Sorge um Europa” deutlich die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung 2015 kritisiert. ”Kulturelle und sicherheitspolitische Interessen” sowie der christlich-jüdische Glauben seien in Gefahr. Weitere “Verunsicherungen bei den Menschen” dürften nicht stattfinden: “Es geht um unsere Existenz”. – Aber nein: Helmut Kohl war ein großer Europäer. So heißt es seit Tagen überall in der politischen Berichterstattung. Wobei es sich hier wohl weniger um Kohl-Blasphemie handelt, als um die Eingemeindung des Verstorbenen in das große WIR, d.h. Grenzen dicht, Austeritätspolitik und grenzenloses Wachstum statt irgendeiner Änderung des politischen Handelns.

http://www.tagesspiegel.de/politik/helmut-kohl-loesung-der-fluechtlingskrise-liegt-nicht-in-europa/13456870.html

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Post Mortem Politics III

April 2017

 

Die SPD übt sich in Glückseligkeit. Die FAZ präsentiert wunschgemäß die Partei des Martin Schulz schon wieder im Abwind. Jedenfalls lässt Schulz bis heute eine inhaltliche Präzisierung seiner Gerechtigkeitskampagne vermissen. Im Gegenteil. Einem Ende der Sanktionen gegen Hartz-IV-Empfänger erteilte er in der Rheinischen Post vom 17.3. eine Absage. “Bei den Sanktionen geht es ja nicht um Schikanen”. Wenn Leistungsempfänger ihren Auflagen nicht nachkommen, soll es bei den Sanktionen bleiben. Eine Berliner Arbeitsagentur und ein Jobcenter in Berlin haben jüngst eine schwer depressive Frau für gesund erklärt; sie solle doch ihr “Restleistungsvermögen” zur Verfügung stellen, sprich: Vollzeit arbeiten. Ihr wurden die amtlichen Zahlungen gestrichen. http://www.berliner-zeitung.de/berlin/psychische-erkankungen-arbeitsagentur-berlin-erklaert-schwer-depressive-frau-fuer-gesund-26296258

Weit über 400.000 Personen sind 2016 von Jobcentern teils mehrfach sanktioniert worden. Jeder dritte Widerspruchsführer und fast jeder zweite Kläger bekam nach einem Prozess sein Geld ganz oder teilweise zurück. Schulz will daran nichts ändern. Selbst die Erhöhung des Schonvermögens für Hartzempfänger ist für ihn kein Thema.

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Houellebecqs Lächeln

Houellebecq zu lesen, ist vielen seiner Leser widerlich. Was daran liegen mag, dass er ein ziemlich verachtenswertes Individuum ist, wie er selber sagt. Offenbar ist es in seinem Fall unmöglich, das Autorenego vom Text zu lösen, es spricht Houellebecq, der Nihilist, der Provokateur und gelassene Apokalyptiker durch alle seine Erzähler, in etwa so wie ein Filmstar nicht mehr in seiner Rolle aufgeht, selbst wenn er sie gut spielt, sondern die Rolle zum biographischen Teilchen der vermeintlichen Person wird, die der Öffentlichkeit bekannt ist. Stars, Schauspieler im Allgemeinen, leben von ihrer Beliebtheit, da endet der Vergleich mit Houellebecq. Die Beliebtheit der Stars scheint umso größer zu sein, je mehr sie es schaffen, eine ins Absurde gesteigerte Normalität zu verkörpern, also zur denkbar schönsten und größten Imaginationsfläche für das gesellschaftlich Wünschenswerte zu werden. Houellebecq steht für das Gegenteil: Er gibt sich als der zukünftige Mensch aus, den seine Texte prophezeien, als eine Art Zombie seines finanziellen und gesellschaftlichen Erfolgs. Immer wieder führt er an sich und seinen Figuren vor, dass Erfolg in dieser Gesellschaft ein Symptom dafür ist, wie weit sich eine Person an die Verhältnisse angepasst hat, um über Geld, Sex, Macht usw. zu verfügen, oder auch welches Maß an Zynismus nötig ist, um die gleichen Ziele auf anderen, brutaleren Wegen zu erreichen. Das Schöne und Bewundernswerte, das dabei in seiner Literatur entsteht, ist die radikale Ehrlichkeit, mit der Erfolg in einer korrupten Gesellschaft als Perversion dargestellt wird. Das macht ihn und seine Literatur so widerlich, für diejenigen, die einverstanden sind mit den Grundregeln nach denen gesellschaftlicher Erfolg verteilt und bemessen wird. Die Erfolgreichen wirken hässlich und abstoßend, obwohl sie von ihm genauso gezeigt werden, wie sie sich selber sehen wollen. Das ist natürlich gemein. Weiterlesen

Post Mortem Politics: Willkommen in der Postdemokratie (2)

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Februar 2017

Bei der Präsidentschaftswahl in Frankreich hat Marine Le Pen realistische Chancen. Der Kandidat der Linken Hamon scheint schon aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Partei Hollandes diskreditiert. Der konservative und neoliberale Kandidat Fillon schmiert in den Umfragen ab, nicht zuletzt aufgrund der Scheinbeschäftigung seiner Ehefrau. Als Shootingstar ausgerufenen wird Emmanuel Macron, der sich liberal-demokratisch positioniert. Ob die Jugendlichkeit des ehemaligen Wirtschaftsministers ausreicht, um die bestehende Verachtung der Eliten nicht zugunsten von Le Pen ausschlagen zu lassen, bleibt abzuwarten. Le Pen und ihre aus der antieuropäischen Linken stammende rechte Hand Florian Philippot gerieren sich jedenfalls als die wahren Verteidiger des Sozialstaates.

Empörung: Donald Trump macht die Grenzen dicht. Die europäischen Regierungschefs haben allerdings für den alten Kontinent nichts anderes beschlossen. Auf dem EU-Gipfel Anfang Februar wurde die „zentrale Mittelmeer-Route“ für Afrikaner von Libyen nach Italien geschlossen. Legale Fluchtwege aus Afrika nach Europa oder die Umverteilung von Asylbewerbern innerhalb der 28 Staaten standen nicht auf der Tagesordnung. Libyen ist nach dem Sturz von Muammar al-Gaddafi in Chaos versunken. Die libysche Küstenwache soll nun ausgebildet und verstärkt werden, um Bootsflüchtlinge zurück nach Libyen zu schicken. Eine funktionierende Verwaltung gibt es dort nicht. Europa sichert aber zu, dass in den zu errichtenden Auffanglagern die „volle Einhaltung der Menschenrechte und des Völkerrechts“ gewährleistet werden kann.      https://www.taz.de/!5377511/

Tausende Flüchtlinge sitzen bei eisigen Temperaturen unter menschenunwürdigen Verhältnissen im Südosten von Europa fest. Weder die Regierung in Serbien noch die in Griechenland kümmert sich um ausreichende Versorgung der Flüchtlinge mit Nahrung, um den Schutz vor Kälte oder die unerträglichen sanitären Verhältnisse. Abschreckung ist das erste Gebot der christlichen europäischen Wertegemeinschaft.

https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/der-neue-dschungel

https://www.tagesschau.de/ausland/kaelte-griechenland-fluechtlinge-103.html

Der ADAC veröffentlichte am 17.1. eine Studie zur Pkw-Maut, die Verkehrsminister Dobrindt (CSU) gegen den anfänglichen Widerstand der EU-Kommission einführen will. Für das Startjahr 2019 errechnete der Autolobbyverein eine “Unterdeckung” von 147 Millionen Euro. Dobrindt behauptet weiter einen Gewinn – den er vor allem wohl auf ideologischem Terrain erzielen will: zahlen sollen nur ausländische Nutzer der deutschen Autobahnen. So wird dem Populismus Paroli geboten. Der wissenschaftliche Dienst des Bundestages hält die erst von der CSU so genannte “Ausländermaut” trotz Zustimmung aus Brüssel für nicht kompatibel mit EU-Recht. Generalsekretär Andi Scheuer meint: “Bei so viel fachlicher Ignoranz muss man die Frage nach dem Sinn des Wissenschaftlichen Dienstes stellen.” Klarer Fall: vernünftig ist, was der Partei nutzt.

http://www.berliner-zeitung.de/politik/zweifel-an-einnahmen-fachen-streit-ueber-pkw-maut-wieder-an-25711558

Post Mortem Politics: Wie Demokraten die Demokratie abschaffen (1)

Die Michmaschine registriert in dieser Rubrik die sich häufenden Anzeichen für die Selbstabschaffung der Demokratie.


Januar 2017

Ein Lob der Kölner Polizei für ihr großartiges Agieren an Silvester 2016! “Alles richtig gemacht!”. Nur Simone Peter fragte nach. Und erntete einen für sie bislang unbekannten Sturm an Hassmails und Morddrohungen. Rund 1.000 junge Männer (im Polizeijargon “Nafris”) vornehmlich aus dem nordafrikanischen Raum seien am Dom festgesetzt worden. Sogenanntes „racial profiling“ habe es aber nicht gegeben – also ein Vorgehen, bei dem Menschen nur aufgrund ihres Aussehens kontrolliert werden. Weiterlesen

Liebe in Zeiten der Selbstoptimierung

Kontaktanzeigen in Zeitschriften gibt es ja kaum noch. Bevor der ganze Bereich ins Internet gewandert ist, füllten die “M sucht W”-Spalten immer einige Seiten, während die Anzeigen suchender Frauen naturgemäß seltener waren und oft mit einer halben Seite auskamen. Aber es gab sie immerhin und ich hatte die Angewohnheit, Stadtmagazine zuerst hinten aufzuschlagen und die“W sucht M”-Rubrik durchzusehen. Das war schnell erledigt, die meisten Anzeigen glichen sich, es gab bestimmte Muster, nach denen solche Texte üblicherweise gestaltet wurden: Oft folgte auf die Selbstdarstellung als liebenswerter Sonnenschein eine Liste mit Vorzügen, die potentielle Bewerber mitbringen müssten. Weiterlesen

Jogi Berner schwimmt nicht mehr

Ich war ein bisschen betroffen, als ich neulich einen Artikel über das Schicksal von Jogi Berner las. Der Single-Rentner hatte ein mittelmäßiges Leben geführt, voller selbstverschuldeter Langeweile. Es war ein langer Text über Einsamkeit, interkulturelle Missverständnisse und über die ganz großen, nahezu sinnlosen Fragen, die sich Herr Berner vermutlich nicht gestellt hat, weil er ausreichend mit der Bewältigung seines Alltags beschäftigt war. Das sei nicht zu kritisieren, schließlich wäre es schwer genug, die täglichen Aufgaben zu meistern, sie würden die größten und wahren Probleme aufwerfen, wie der Autor meinte. Es bliebe aber offen, ob es sich überhaupt lohnen würde, diesen stetigen Kampf gegen die Umstände zu führen, wenn nicht ein größerer, persönlicher Lebenssinn die Einzelteile zusammenhalten würde. Weiterlesen

Der legendäre kleine Mann – DIE ZEIT versteht ihn

Gero von Randow stellt sich in der ZEIT Nr. 22 vor den Proll, also den Proletarier, der von Linken als Lumpenproletarier bezeichnet und ausgegrenzt würde, solange er nicht die vermeintlich richtige Meinung vertritt. Oder er wird von der Agenda 2010-Partei, die sich wahlkampfgemäß zur neuen Gerechtigkeitspartei erklärt, zum Pöbel abgewertet. Schlicht faul sind die, die die Hand aufhalten und sich nicht anstrengen wollen – im Unterschied zu den Erfolgreichen, die Reichtum geerbt oder anderweitig angehäuft haben, und für dessen Mehrung die SPD einsteht (Abschaffung Vermögenssteuer, Abschaffung der Erbschaftssteuer, TTIP etc.). „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“ sagte Franz Müntefering – allerdings nicht als Vorwurf an Steuerflüchtlinge, Rentiers, Banker oder Millionenerben gerichtet, sondern als Kampfansage an die heute sogenannten Minderleister. Weiterlesen

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