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Lost in Media

Kategorie: Fragmente (Seite 1 von 3)

Derealisationen 9

Nochmal zur nachholenden Trauer (DR8). An das Gefühl, um etwas lange Vergangenes zu trauern, knüpfte sich der Gedanke, dass die Trauer überleben konnte, weil etwas an ihr war, das damals noch nicht empfunden wurde. Dass die Erinnerung, an die sie gebunden ist, plötzlich seltsam anders erscheint. „So hab ich das noch nie gesehen“, könnte man sagen und fragen, warum nicht und was sich verändert hat? 

Vielleicht ist dieses Gefühl identisch oder vergleichbar mit dem, was Freud als das „Unheimliche“ bezeichnete. Das sei, so sagte er, die Wiederkehr des Verdrängten, das wie ein Gespenst aus dem Unbewussten auftaucht und das beim Übertritt ins Bewusste, wie immer das geschehen mag, nun fremd, zugleich aber irgendwie auch bekannt zu sein scheint. Die im Wort versteckten Bedeutungen, heimlich und heimisch, sprechen laut Freud für diesen Zusammenhang: Und das „Un-„ steht nun für die Entbergung des im Eigenen (heimischen) versteckten (heimlichen).
Vielleicht spielt das Unheimliche eine Rolle bei der nachholenden Trauer, jedenfalls ist das Auftauchen von etwas bekannt Unbekanntem an ihr beteiligt, nämlich das neuerliche Gefühl einer Traurigkeit, die man lange überwunden glaubte.

Allerdings scheint es bei Freud doch um etwas anderes zu gehen. Die Trauer, die ich meine, ist erstens nicht unheimlich, sondern einfach sehr traurig, und zweitens knüpft sie sich an Erinnerungen, die nicht oder nur halb verdrängt waren. Im Gegenteil, es sind die gut bekannten Erinnerungen, die plötzlich – nur durch einen kleinen Anstoß – in einem anderen Licht erscheinen können. Das ist ja das Traurige: Das plötzliche Gefühl etwas Wichtiges, als es geschah, gar nicht wahrgenommen zu haben oder darüber weggegangen zu sein oder es mit Gewalt oder aus Angst oder aus Dummheit falsch gedeutet zu haben. Vielleicht kann ich es so sagen: Sich nicht getraut zu haben, etwas zu empfinden, als es sich ereignete.

Später, vielleicht aus einer Einsamkeit, oder mit zunehmenden Alter durch das natürliche Zurückfallen der Gedanken in die verflossene Lebenszeit, stoßen wir in Erinnerungen auf Gefühle, die nicht gelebt worden sind, die aber da waren, und – das ist seltsam – immer noch da sind, eingeschlossen wie in eine Glaskugel, die vor unseren Augen zerbricht. Sie entlässt eine Trauer, um die verpasste Lebendigkeit, die sich damals in Gefühlen hätte äußern wollen, aber nicht konnte.

Derealisationen (5)

Neulich las ich in „Die Vögel“ von Andrej Bitow folgendes
Wir leben auf dem Grund eines Luftozeans… Am wogenden Himmel schwimmt ein Vogel, er rührt kaum die Flossen.
Und
In einer seltsamen Weise sind die Vögel in unserem Leben abwesend, wiewohl man sie zweifelsfrei mit unbewaffnetem Auge beobachten kann. Als ob sie am Rand unseres Bewusstseins flögen…

Das ist wahr. Dafür muss man nur die Welt auf den Kopf stellen. Im Grunde dreht er nur an ein paar Wörtern, um unsere gewohnte Sichtweise zu kippen … ein Fisch fliegt vorbei, er rührt kaum die Flügel.
Wo führt das hin, nach innen: „Als ob sie am Rand unseres Bewusstseins flögen“. Darum geht es also? Was sich am Rand unseres Denkens bewegt? Flüchtige Gedanken. Die Vögel unter den Bewusstseinsinhalten. 

Ich muss an die Spatzen denken, die um die Café-Tische hüpfen oder hüpften, weil es nur noch selten vorkommt, und was für einen lustigen Anblick sie boten, als wären sie nur gelandet, um Unfug zu machen. Und wie überraschend es immer war, plötzlich von einer Schar Vögel umringt zu sein. Als ob ihr da sein, gerade erst bewusst würde. Eine nette Überraschung, und ihr Ausbleiben fällt zwar kaum auf, macht das Dasein aber unauffällig trauriger.
Es fehlt etwas, ohne dass wir uns daran erinnern müssten. Abgerutscht über den Rand des Bewusstseins. Es bleibt spürbar. Und wie bei jedem unbeachteten Verlust rücken wir ein Stück weiter in die Mitte unseres Bewusstseins, die nur das Allergewöhnlichste enthält: Die uns bekannten Tatsachen. Die Überraschungen bleiben zunehmend aus. Der Charakter festigt sich. (Bis sich das Gefühl einstellt, von einem Alien übernommen worden zu sein. Dann ist man endlich erwachsen).

Um zu den Gewissheiten zurückzukommen (siehe DR4), muss ich von hier – den Vögeln, dem Bewusstsein usw. – nicht weit ausholen. Ich war mir immer sicher, denkend verstehen zu können, zu müssen eigentlich, um nicht unterzugehen. Die größte Kränkung bestand darin, zurückgewiesen zu werden, weil ich etwas dachte, dass andere nicht dachten oder es für unwichtig oder sogar dumm hielten. Trotzdem habe ich mich mit meinen Gedanken oft vorgewagt und wurde dafür nicht selten abgestraft. Als arrogant, als Spinner, Grübler, Kopfmensch, als „Ach, ein Philosoph“ und so weiter. Das traf mich härter, als unerwiderte Gefühle. Die konnten mich kaum verletzen, da ich meine eigenen sowieso nicht zu zeigen traute. Was sollte ich da erwarten? Große Leidenschaft – wohl kaum. Ohne darüber nachgedacht zu haben, wusste ich auch nie, was ich gefühlt hatte. Das ist immer noch so. Nur denke ich heute darüber häufiger nach.

Die Gewissheit, verstehen zu können, weil ich es will, – natürlich nicht alles, nur das, was mir liegt -, sollte ich vielleicht, meinem Programm folgend, mal auf den Kopf stellen (also: derealisieren = fremd werden lassen). Möglicherweise ein Weg in die Selbstverblödung. Ich weiß auch nicht, wie es gehen soll, einfach mal nicht verstehen zu wollen. Sich dumm stellen. Aber eine Verstellung soll es nicht werden.

Abwarten, vielleicht fliegt dazu bald eine Idee am Rand meines Bewusstseins vorbei. Da schau ich jetzt genauer hin.

Derealisationen (4)

Eine ziemlich zwecklose Grübelei. Wenn man selbst kein Vater ist (siehe DR3). Also, dachte ich weiter, es gibt vielleicht doch einen Unterschied; die „ontologische Angst“ (siehe DR 2) könnte möglicherweise nicht auf den Tod gerichtet sein, wie die Todesangst, sondern auf das Leben. Sie wäre dann die Angst davor, nicht leben zu können. Oder noch praktischer: Ein verfehltes Leben zu führen, eines, dass man nie gewollt hat. Was ja mindestens so traurig ist wie der Tod. Aber hoffentlich nicht ganz so häufig vorkommt.

So ähnlich – das fällt mir gerade ein – wird von „ontologischer Sicherheit“ gesprochen, also in diesem Fall vom Gegenteil: der „ontologischen Unsicherheit“.

Ontologische Sicherheit (englisch ontological security), auch Seinsgewissheit, ist in der Soziologie nach Anthony Giddens das Vertrauen, das die meisten Menschen in die Kontinuität ihrer Identität und die Konstanz der sie umgebenden sozialen und materiellen Handlungsumwelt haben.[1] Ihr Gegenteil wird ontologische Unsicherheit genannt.
(Wikipedia)

Das ist ziemlich genau das, womit sich meine kleinen „Derealisationen“ hier beschäftigen sollen. Verunsicherungen der Seinsgewissheit. Durch Schock oder irgendwelche drastischen Einbrüche in die „Kontinuität“ des eigenen Dahinlebens. In der Regel wird man der Möglichkeit des Nichtseins ja nur gewahr, durch Todesfälle oder andere existenzielle Schrecklichkeiten. Krankheiten, Unfälle, Verstümmelungen, alles, was man nicht will.
Ob es ein Leben in ontologischer Unsicherheit geben kann, ohne ständig von einem existenziellen Schock in den nächsten zu fallen, und ob es überhaupt wünschenswert ist, den Tod nicht dauernd zu vergessen, ist die Frage, die mich angestoßen hat, mit diesen bröckeligen, manchmal wirren, jedenfalls kurzen Texten eine laienhafte, subjektive Forschung zu beginnen. Eine Forschung, mit der ich meine persönlichen Gewissheiten in Frage stellen möchte. Dafür müsste ich allerdings erstmal durchschauen, welche das sind; welche Überzeugungen lassen mich so leben, wie ich es tue? ( Ha, Abspann … Cliffhanger … demnächst dann neue Grübeleien in Folge 5)

Derealisationen (3)

Es ist doch eine ziemliche abwegige Idee: Dass der Vater schützend vor dem Sohn stehe und dessen Unbewußtes gegen die Angst vor der eigenen Sterblichkeit abschirmt (siehe DR 2). Das Gegenteil ist wohl eher der Fall. Der Vater bedroht die kleine, symbiotische Welt des Muttersohns. Als Beschützer hat der „gute“ Vater das Kind vor allem vor dem Vater selbst zu retten.

Die meisten Väter, die ich kenne, sind selbst nicht erwachsen. Trotzdem bestehen sie darauf, ihren Kindern die Realität beizubringen. In Form von Regeln und unnützen Geschenken. Als wären Männer, die Väter sind, noch weniger in der Lage, über sich selbst nachzudenken. Und über Gesellschaft ja sowieso nicht. Für Kritik sind sie zu beschäftigt. Mit Erziehung. Und Arbeit. Es ist ein trauriger Witz, wie sie mit ihrem Realitätssinn, den man auch Sorge nennen kann, erst selbst zu Idioten werden und dann ihre Kinder zu welchen machen. Da hat sich die gesellschaftliche Disziplinartechnik „Angst“ perfekt in die Biologie eingeklinkt: Sobald Kinder da sind, dreht sich alles nur noch um Versorgung – die muss von Anfang bis Ende und möglichst sofort gesichert sein. Beste Babyausstattung, frühkindliche Ausbildung (Babyyoga, Geige, Sport, Fremdsprachen und alles, was das enorm plastische Hirn verarbeiten kann, weil später ist der Zug schon abgefahren), private Schulen, Uni, Beruf, Rente, Pflege, vorfinanzierte Beerdigung.

Kann es sein, dass eigene Kinder, so wie sie in unserer Gesellschaft gerade instrumentalisiert werden (nämlich als kleine Konsumgötter, die nur das Beste verdient haben), das einfachste Mittel sind, um Menschen zu Reaktionären zu machen? Es braucht jedenfalls großen Mut, für das eigene Kind nicht „das Beste“ zu wollen. Davor steht die Erkenntnis, dass das derzeit Beste nichts anderes ist, als eine Einübung in Konformität. Statt vor Schreck aufzuschreien, nicken die Eltern, die ich kenne, bei diesen Aussichten beruhigt ein. Hauptsache das Kind ist versorgt. Es sind ja unsichere Zeiten.

Derealisationen (2)

Ich stieß beim unkonzentrierten Lesen auf einen Absatz, in dem die Rede war von „ontologischer Angst“, und ich blieb an dieser Formulierung hängen, weil dieser philosophische Jargon etwas herausfiel aus dem Text, und ich fragte mich, warum sagt er nicht einfach: „Todesangst“. Ich las den Absatz nochmal und der beste Grund, den ich für diese Formulierung fand, war der, dass sie mich beim Lesen stolpern ließ und darauf aufmerksam machte, dass an dieser Stelle ein Gedanke entwickelt wurde, der nicht einfach überlesen werden sollte: Die „ontologische Angst“ nämlich sei für den Sohn mit dem Tod des Vaters verbunden, der, wenn er denn eingetreten ist, nicht mehr vor dem eigenen Ableben stehen würde, und der Sohn müsste nun quasi dem Tod direkt ins Auge blicken und dabei erkennen: Ich bin als nächster dran.

Vater tot, Sohn, Tod.

Alles verschwindet, nur die psychoanalytische Überhöhung der Vaterrolle nicht. Und die Tochter hat offenbar andere Probleme.

Derealisationen (1)

Ich dachte darüber nach, was sich eigentlich verändert hatte. Jedenfalls gab ich mich ganz dem Alltag hin – bloß nicht so oft an meine toten Freunde denken – und war dabei umgeben von den vielen kleinen Illusionen, die sich abmühen, das echte Sterben symbolisch zu überbieten: Filme, Spiele, Serien, schöne Schuhe und vieles andere, was sich kaufen lässt, Alkohol, Reisen und so weiter. Und nicht Nachdenken. Trotzdem lief alles weiter wie bisher.
Das war wohl eine Sackgasse.

Besser wäre es vielleicht, zwar einfach weiterzumachen, aber mit einem kleinen „Spin“, der das Selbstgespräch (über das irgendwie zu lebende Leben) von innen nach außen dreht. Wie soll das gehen? Für mich: Erstmal beginnend mit kleinen Notizen (Derealisationen), die nichts klären, sondern mit dem fahrigen Gedankenstrom in die eine, dann in die andere Richtung treiben.

Vielleicht hilft ein bisschen Animismus – „Der Animismus stehe in Beziehung zum Traumerleben, in dem die Grenzen des individuellen Bewusstseins gegenüber der Außenwelt aufgehoben seien und das Gefühl einer ursprünglichen Einheit und mystischen Verbundenheit, ja sogar einer Harmonie zwischen Psyche und Kosmos bestehe.“ (Wikipedia)

Seit kurzem sehe ich mich selbst auf der Zielgerade. Ohne Ziel natürlich. Ob das depressiv oder hellsichtig ist, wird sich ja bald zeigen. Die Zukunft schrumpft Tag für Tag. Was übrig bleibt, sollte möglichst nicht vertan werden. Wie verschwende ich die knappe Zeit am besten, so dass ich nicht ständig das Gefühl habe, es zu versauen. Verschwendung? Ja, was sonst, aber irgendwie auf höherem Niveau.

Das geht sicher nicht einfach so. Dem steht der Egomanismus (Ggs. von Animismus) entgegen. Schritt 1 zur Linderung: sich selbst fremd werden. Derealisieren.

„Derealisation (oder präziser Derealisationserleben) bezeichnet eine zeitweilige oder dauerhafte abnorme oder verfremdete Wahrnehmung der Umwelt (etwa von Um­gebung, Per­sonen und Gegenstän­den). Die Umwelt scheint dabei häufig als Ganzes plötzlich unvertraut, auch wenn jedes Detail problemlos wiedererkannt und eingeordnet werden kann. Derealisation steht in enger Beziehung zum Depersonalisationserleben, bei dem die eigene Person als fremd empfunden wird.“ (Wikipedia)

Ziviler Gehorsam

Etwas stimmte nicht. Ich schlief noch, oder wurde gerade wach, jedenfalls hatte ich schon schlechte Laune, bevor ich wieder ganz bei Bewusstsein war. Der Lärm war höllisch. Ein Hubschrauber stand über dem Haus, ich riss vor Schreck die Augen auf.
Gestern war es heiß gewesen und es war noch immer warm und ein bisschen feucht. Durch das offene Fenster drang der Geruch von Gras ins Zimmer, frisch gemähtem Gras, und der Höllenlärm schwang sich von einer Wand zur anderen durch mich hindurch, als wäre ich ein wackeliges Stück Gallert, ein besonders weiches Ziel. Ich stützte mich auf, vom Kopfende zum Fensterbrett, sah die Rotoren wirbeln und unseren Hausmeister, der gerade den Rasenmäher steil auf die Hinterräder stellte, und wie er ihn im nächsten Moment nur mit einem Schwung aus der Hüfte wendete, um rasend schnell, ohne einmal abzusetzen, in die Gegenrichtung unter der riesigen Kastanie zu verschwinden. Es war eine Bewegung aus einem Guß, geschmeidig, könnte man sagen, wäre das Gerät nicht so sperrig gewesen. Er hatte Mühe es im Griff zu halten.
Verärgert wollte ich ihm etwas zurufen, aber mir fiel nichts ein. Es hätte nur unnötigen Streit bedeutet. Trotzdem dachte ich darüber nach, was ich rufen könnte, aber nicht rufen würde, weil der Hausmeister ein kluger, netter und hilfsbereiter Mann war, der keine Beschimpfung verdient hatte, und mir fiel ja sowieso nichts ein, außer – seltsamerweise – “Keine Gewalt”. Was soll das?, dachte ich. Wie unangemessen, schließlich hatte man mir nichts angetan, andererseits fühlte ich mich ziemlich gequält. “Keine Gewalt”, die Formel der Hilflosen, und der Demonstranten, die sich nicht vertreiben lassen wollen, aber die natürlich immer, immer verlieren, weil sie nicht kämpfen mögen.
Das nächste Mal könnte ich ein Plakat aus dem Fenster hängen, ein Versuch ist es wert, dachte ich. Vielleicht hätte der Hausmeister sogar Verständnis dafür. Nur ändern würden zwei Worte natürlich nichts.

Hegemoney

Gestern wusste ich mal wieder nicht, wohin mit dem ganzen Geld.
„Dieses Mal ist es noch mehr“, sagte der Lieferant und schleppte ein Dutzend schwarze Müllsäcke vor meine Wohnungstür.
„Wohin damit“, fragte er. „Tja, wohin damit“. Wir gingen hinein und standen dicht beieinander auf dem kleinen Fleck, der mir als Lebensraum geblieben war, in der Mitte des Wohnzimmers, in dieser dunklen Höhle, umgeben von schwarzen Säcken, die an allen Wänden bis unter die Decke wuchsen. Selbst die Fenster waren dicht gestellt, das hatte ich bis zuletzt zu verhindern versucht, irgendwann musste ich mich der bösartigen Wucherung, die meine gesamte Wohnung, ausgehend vom Stauraum unterm Bett, befallen hatte, ergeben und die letzten Bastionen fallen lassen: Die Badewanne, die Fensterwände, drei Säcke hatte ich inzwischen mit ins Bett genommen. Das hätte ich ruhig früher machen können, ich hielt das Bett lange für meinen letzten unantastbaren Rückzugsraum, dann stellte ich fest, dass es sowas für mich nicht mehr gab und nahm ein paar Säcke mit hinein; es schlief sich gut mit ihnen.
Wir standen gedrängt beieinander, er, stämmig, klein, einen Sack auf jeder Schulter, ich, lang, dünn und gebogen, ratlos mit der Taschenlampe funzelnd.
„Und nun“, fragte er und sah mich von unten her ängstlich an. Es war bedrohlich hier, ich fühlte mich natürlich auch nicht wohl, zwischen den dicht gestopften und verschlungenen Innereien meines Geldbergs. Möglicherweise bestand Einsturzgefahr. Im schwachen Licht glänzte die dünne Plastikhaut feucht und ungesund, das Raumklima war furchtbar, uns fiel das Atmen schwer.
„Raus hier“, krächzte ich. Mir schlug das Herz im Hals, die Brust schmal und von schweren Gewichten bedrückt, versuchte ich nicht ohnmächtig zu werden. Atmen, sagte ich mir, einfach weiter Atmen, das geht vorbei. Dem Lieferanten ging es auch nicht gut. Er ließ sich das nicht zweimal sagen, die Säcke glitten zu Boden, und er huschte mir voraus durch den engen Gang zum Flur und weil es dort nicht besser wurde, ins Treppenhaus, wo wir durchschnauften, als wären wir mit letzter Luft aus großer Tiefe aufgetaucht.
„Schrecklich“, sagte er nach einer Weile. Ich nahm mein Handy zur Hand und rief meinen Bruder an.
„Hast du noch ein Plätzchen frei“, fragte ich. Er hatte wohl geahnt, weshalb ich ihn anrief, jedenfalls kam seine Antwort, ohne zu zögern: „Bleib mir vom Leib“, rief er, „ich weiß selbst nicht, wohin mit dem Zeug.“
„Es ist aber ein Notfall“, sagte ich. „Ich hol es auch bald wieder ab, ich lass dich ganz bestimmt nicht darauf sitzen. Nur noch dieses eine Mal“, flehte ich und schämte mich nicht dafür, dass meine Stimme bebte, mir kamen die Tränen.
„Ich kann dir wirklich nicht helfen“, antwortete er, einfühlsam, weich, brüderlich im Tonfall, aber in der Sache blieb er hart. Es hatte keinen Zweck.
Ich war auf mich allein gestellt. Niemand konnte mir jetzt noch helfen. Ich fühlte mich verlassen, einsam wie noch nie. Dann sah ich den Lieferanten an, er war ja noch da, saß auf dem Treppenabsatz und wartete geduldig. Ein braver, subalterner Geist, der nur Befehle ausführte, das ganz sicher, aber ich konnte nicht anders, als wütend auf ihn zu werden. Warum machte er mir solche Probleme?
„Können sie die Lieferung nicht einfach wieder mitnehmen?“, fragte ich, obwohl ich die Antwort kannte.
„Das kann ich nicht machen, das bleibt an mir hängen, dann kann ich gleich einpacken.“
„Nehmen sie es doch mit nachhause“, versuchte ich es nochmal.
„Das geht wirklich nicht“, sagte er, „bei mir wird es auch immer voller.“
„Wir lassen es erstmal hier im Treppenhaus stehen“, sagte ich und sah, wie erleichtert er war.

Am nächsten Morgen war alles noch da, bald würden sich die Nachbarn beschweren.
Ich ging die Straße runter ins Café, ich brauchte Zeit, um nachzudenken. Vor den Häusern lagen Säcke auf großen Haufen. Einige waren aufgeplatzt, einzelne Scheine wurden vom Wind heraus gezerrt und wirbelten zusammen mit dem Herbstlaub über den Gehweg. Bald würde es kalt werden, es lag so etwas in der Luft. Der Kaffee war sehr gut und kostete 1 Cent. In die Supermärkte zu gehen, hatte auch keinen Zweck, dort gab es seit Wochen die „Alles-umsonst-Tage“.
Wieder zuhause, gelang es mir nicht die Wohnungstür zu öffnen. Nur kleiner Spalt tat sich auf, ganz gleich, wie stark ich drückte, die Tür gab immer nur ein paar Zentimeter nach, bis sie aufgehalten wurde vom Gewicht der dahinter versammelten Masse. Die Höhle musste eingestürzt sein. Ich dachte kurz nach, was nun zu tun sei, dann ging ich in den Keller, nahm meinen Schlafsack und wechselte die Schuhe; meine alten Wanderstiefel wären für die kommenden Herausforderungen sicher besser geeignet, dachte ich. Dann ging ich rüber in den Volkspark, den ich schon lange nicht mehr aufgesucht hatte, dabei lag er gleich auf der anderen Straßenseite. Viel hatte sich nicht verändert. Das Café stand jetzt leer. Vielleicht war der Pächter gestorben oder die Geschäfte liefen nicht mehr. Hinter der Baracke suchte ich mir ein ruhiges Plätzchen im Gebüsch und rollte meinen Schlafsack aus. Erstmal durchatmen, dachte ich, und fühlte mich schon viel freier – ohne meine Geldprobleme.

Es ist vorbei

Es war ja noch sehr sonnig, ich putzte meine Sonnenbrille mit einem dieser kleinen seidigen Tücher vom Optiker. Das Tuch sah aus wie ein Leichentuch, tiefschwarz, glänzend, die Ränder zackig wie Sägeblätter. Man hätte eine junge Feldmaus damit abdecken können oder einen sehr großen Käfer. Die Stimmung war dahin.
Waren diese Tücher früher nicht immer weiß gewesen? Früher – als die Dinge noch schön waren -, als man glaubte, es werde gut und dass es mit dem Krieg bald mal vorbei sein müsste, und man auch nicht dauernd so traurig war, irgendwem oder -was nachtrauerte, und sich nicht so sehr danach sehnte, dass alles ganz anders sei, die Arbeit, der Alltag, die Liebe, einfach alles, das eigene Leben, an dem nichts auszusetzen ist, außer dieser Unzufriedenheit. Vorbei. So ein Jammer.
Yoga, wird helfen, Körper und Geist, da hängt ja alles dran, eine ganze Philosophie, die östliche Weisheit, die kann nicht nutzlos sein; Meditation, oder lieber Therapie, natürlich, aber welche zahlt die Kasse?; und Urlaub muss sein, nur wohin, es ist überall so touristisch geworden; die Kinder sind aus dem Haus?, darauf hatte man doch gewartet, und jetzt?, jetzt kommen sie viel zu selten vorbei. Vorbei. Und die Weltlage?
Auf Youtube gibt es alles, Simon & Garfunkel zum Beispiel. Das ist so traurig, Sounds of Silence: Hello Darkness my old friend, hatte man früher nicht anders geweint, süßer, irgendwie? Wieso ist diese Live-Aufnahme schon 50 Jahre alt? Und David Bowie: Ist der wirklich tot? Leider, muss man sagen, ja, the King left the Building, richtig tot, nicht wie Elvis, der natürlich nicht auf der Toilette sitzend gestorben ist, sondern immer noch lebt, wie seine Fans wissen, in der Südsee oder auf dem Mond. Die Zeit der Unsterblichkeit ist vorbei. Nostalgie ist tödlich. Vorbei. Es ist zum Heulen.
Hypnotherapie, 120 Euro die Stunde, keine Kassenleistung, such dir deinen Wohlfühlort und begib dich dorthin, an einen Strand, auf eine Wiese, dein Kinderzimmer, der Wald von früher, als man noch nicht Spazieren gegangen ist, als Spazieren gehen einfach nur langweilig war, mit den Eltern, ach, die armen Eltern, die immer auf den Wegen blieben, such diesen Ort und begib dich dorthin, von da sieht die Welt ganz anders aus, und komm langsam zurück, bei Acht bist du wieder wach, und nimm dieses gute Gefühl mit in den Tag; aber eine Langzeitwirkung ist nicht belegt, das ist schnell vorbei.
Kauf dir mal was Schönes. Oder was Praktisches, eine neue Matratze zum Beispiel, vielleicht kommt die Schlaflosigkeit vom schlechten Liegen, bessere Schlafhygiene insgesamt wäre noch besser, oder doch was Schönes, ein Bild, eine künstlerische Fotografie, das ist mal was Neues, und es anzuschauen ist immer wieder interessant, für eine Weile, aber im Großen und Ganzen wäre die Matratze doch nötiger. Für eine neue Matratze ist es nie zu spät, lohnt sich das noch?, bitte, was für eine Frage, es wird wohl noch genug Zeit zum Schlafen bleiben, soviel Hoffnung muss sein.

Verschwende deine Tugend

Sport
Als ich einmal ganz entzückt war über eine Kleinigkeit, sagte jemand mir, das sei jetzt aber ziemlich übertrieben gewesen. Und ich schämte mich für einen kurzen stillen Moment. Dann fiel mir mein Basketball-Trainer ein, den die Schiedsrichter während der Spiele immer wieder ermahnen mussten, bitte nicht so euphorisch zu sein. Er reagierte empört auf die Ermahnungen und sagte dazu: “Ich lass mir doch die Freude am Spiel nicht verbieten”. Dann setzte er sich und gab Ruhe bis zum nächsten Punkt oder halbwegs gelungenen Pass, der ihn vor Begeisterung vom Stuhl riss. Niemals wurde unser Trainer laut, weil er etwas zu bemängeln hatte, er liebte das Spiel und er fand jeden seiner Spieler ganz großartig, obwohl wir meistens verloren haben. Als wir zum Auftakt eines Spiels einen perfekten Spielzug vortrugen und ihn mit Punkten krönten, rief er uns klatschend von der Seitenlinie zu: “Saubere Ausführung! Nächstes Mal bitte auf den gegnerischen Korb”. Das war keine Ironie, er sah das Gute immer im Detail. Trotzdem schämten wir uns ein bisschen. Dieses Spiel gegen den Tabellenführer hätten wir übrigens fast gewonnen, da unsere Gegner, allesamt brillante Techniker, mit unserer verwirrenden Spielweise nicht klarkamen.
Mir ging das alles durch den Kopf und was für einen Spaß wir dabei gehabt hatten, vor jetzt fast 25 Jahren. Dann sah ich mir unauffällig den Mann an, der neben mir saß und der mich gerade eben getadelt hatte, und fragte mich, ob er so etwas auch mal erlebt hatte. Er starrte weiter geradeaus, obwohl er meinen Seitenblick auf sich spürte und etwas nervös wurde. Könnte gut sein, dachte ich, wahrscheinlich hat er es nur vergessen.

Pornoise
Meine Nachbarin vom Treppenaufgang nebenan hat ein unverwechselbares Lachen. Zwar habe ich sie noch nie gesehen, und wahrscheinlich würde ich sie auch nicht erkennen, aber da ich mir inzwischen ein eigenes Bild von ihr gemacht habe, weiß ich sowieso, dass sie ein Zille-Original sein muss: Plump, rotwangig, versoffen, lüstern bis in die Haarspitzen, also dermaßen primitiv, dass man vor Scham den Blick abwenden möchte, es aber nicht kann. Sie ist laut, oft hat sie Gäste, dann wird viel getrunken und das Gelächter nimmt kein Ende. Sie lacht ununterbrochen, wiehernd, kreischend, manchmal empört, als müsste sie den Saufkumpanen auf die fummeligen Finger hauen. Später, nachts, die meisten Gäste sind gegangen, und ich hab wohl schon geschlafen, braut sich drüben ein Gewitter zusammen; erste Böen, die mich im Halbschlaf umwehen, ist da was? – dann wird es stürmischer, bis hin zu einem Gejaule, das nur kurz dauert, mich aber noch lange wach hält. Jedenfalls ist es nicht zu überhören, also bin ich dabei, unfreiwillig zwar, fasziniert und abgestoßen, praktisch unbeteiligt, theoretisch aber beschäftigt mit Grübeleien, die vom aufwühlenden Sound mit wechselnden Stimmungen unterlegt werden. Den Morgen danach beginne ich mit einem leichten Kater und schwermütigen Gedanken, insgesamt befinde ich mich in einer zersetzenden Gefühlslage: Bestimmt werde ich als Parasit wiedergeboren.

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