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Lost in Media

Kategorie: Familienalbum

Derealisationen 10

Um die Tiere habe ich getrauert, als wären sie mir wichtig gewesen. Waren sie ja auch, nur wußte ich es vorher nicht, sie lebten ja noch. Und ich war ein Kind. Es ging von Tag zu Tag, immer ein bisschen älter, auch davon bekam ich lange nichts mit. Sie sind natürlich alle gestorben. Bis auf einen, der flog durch‘s offene Fenster und war weg. Aber auch der ist selbstverständlich schon lange tot, ich weiß nur nicht, wie er gestorben ist. Das war bei den anderen Tieren nicht so, da trat der Tod ein oder wurde herbeigeführt, und irgendwie waren wir immer daran beteiligt.

Die Meerschweinchen gingen alle ziemlich schnell ein, das sind keine zähen Biester, die letzten beiden frass der Nachbarshund. Die Katzen wurden eingeschläfert. Die Fische trieben mit dem Bauch nach oben, ich wechselte das Wasser zu oft, das vertrugen sie nicht. Einer hielt sich noch eine Weile. Ein „Black Guppy“, die sehen von Natur aus, als wären sie in Trauer. Ihre Schwanzflosse ist ein schwarzer Schleier. Manchmal fressen sie ihre Artgenossen auf. Keine anderen Fische, Schwarze Guppies fressen ausschließlich ihre Verwandten. 

Der Schäferhund des Nachbarn wurde vergiftet (nicht von uns). Unsere erste Katze vom Bauer erschossen, weil sie auf seinen Feldern herumlief. Sie hatte ein schönes getigertes Fell, wahrscheinlich hat er ihren Kadaver liegen lassen. Wir haben sie nicht gefunden. Obwohl wir gesucht haben, tagelang, meine Mutter, mein Bruder und ich.

Ein paar Wasserschildkröten wurden im Gartenteich ausgesetzt, da vermehrten sie sich sogar noch. Ich denke, im Winter war es dann vorbei. Eine geriet versehentlich in die Kanalisation. Wer weiß.

Eine kleine Ente, ein biologisches Schulexperiment, wurde im Schlaf zerdrückt. Und somit der Beweis erbracht, dass Babyenten nicht auf junge, pubertierende Männer geprägt werden sollten. Das Tier hieß „Arnold“, aber auch das hat nicht geholfen.

Rih starb in den Armen von Old Shatterhand, alter Freund, bester Gefährte, die Geschichte zieht bis heute. Ein Pferd, ja, aber absolut keine Mädchengeschichte – denen sterben doch nicht die schönsten, treuesten Pferde weg. Oder doch?

Jack London, Wolfsblut… schrecklich. 

Und mein Affe, 10 cm groß, mein ständiger Hosentaschenbegleiter, bis er irgendwo im Museum für Kunst und Gewerbe unbemerkt herausfiel. Der Verlust wurde im Museumsshop durch einen schönen, kleinen Holzmatrosen ersetzt, sonst hätte ich das Gebäude wohl nie verlassen. Ein Matrose? Ein Mensch! Wie sollte ich den lieben? Ich nahm es ihm zwar nicht persönlich übel, aber er war wie ein rot-weiß geringeltes Ausrufezeichen hinter dem von mir (versehentlich) begangenem Verbrechen – ich hatte meinen kleinen Affen in diesem riesigen Museum ausgesetzt. Da würde er nie wieder herausfinden, bis er entdeckt würde, aber natürlich nicht von mir. Das verfolgte mich einige Zeit, und auch die Frage, ob ich alles getan hatte, ihn zu retten. Ich war ja sofort in Tränen aufgelöst gewesen und innerlich völlig zusammengebrochen, gar nicht in der Lage, richtig zu suchen, obwohl ich wie rasend zurück in die Ausstellungsräume schoss. Ich kam nicht weit. Ein Wärter stoppte mich wie ein fliehendes Tier mit ausgebreiteten Armen und trieb mich dem Ausgang zu. Doch bei allem, und das ist bis heute hängengeblieben, hatte ich das Gefühl der totalen Hoffnungslosigkeit; ich wusste es gibt kein Zurück – vom ersten Moment an, als ich an die Hosentasche griff, wo ich den Affen mit dem Kopf hatte rausschauen lassen, und nichts spürte, weil da nichts mehr war.

Das ist Geschichte, keine große natürlich. Aber unvergessen. Und ich bin nicht allein, es ist Familiengeschichte, jeder von uns erinnert – auf eigene Art – ein bisschen davon und hat anderes vergessen. Gesprochen wird darüber kaum. Vielleicht ist es zu lange her. Und sie sind ja alle tot.

Zu den Vielen gehen (lat. „ad plures ire“ für sterben)

Als Kind war ich begeistert von Flugzeugen. Ich fand die Dinger schön und das Abenteuer reizte mich. Die Technik hat mich nie interessiert. Später bekam ich dann Angst vorm Fliegen. Alle Flugzeuge, die ich je betreten habe, waren ziemlich hässlich, jedenfalls wenn man genauer hinsah: Weiße Rümpfe mit bunten Streifen und Schmutzschlieren und Rost, von den schäbigen Kabinenausstattungen ganz zu schweigen, Schalensitze aus Plastik, überall nur Kunststoff. Sie hatten natürlich nicht die geringste Ähnlichkeit mit den fliegenden Silberpfeilen aus der Pionierzeit der Luftfahrt, in die ich mich damals lesend hinein fantasierte. Beeindruckt von den vorsintflutlichen Maschinen und fasziniert von den Piloten, die auf verblichenen Fotos in seltsamen Hosen, schicken Jacken und Lederkappen neben ihren Fluggeräten posierten, hatte ich mir das Fliegen immer wie eine persönliche Heldentat vorgestellt.
Schon vor meinem ersten Flug, ich war so 10 Jahre alt und mit Papa und meinem Bruder auf dem Weg nach Italien, kamen mir erste Zweifel. Nichts deutete daraufhin, dass ein Abenteuer bevorstand, die anderen Leute am Check-In freuten sich nicht, sie hatten auch keine Angst, sie waren einfach an das Fliegen gewöhnt. Auf dem Flughafen in Neapel war es – obwohl ich die Alpen und sonnige Wolkengebirge von oben gesehen hatte – dann vorbei. Nicht, dass es mir damals klar gewesen wäre, aber meine Geschichte der Luftfahrt endete bereits nach diesem einen Flug. Noch am selben Tag stand ich im Hafen von Neapel und staunte über die kleinen Fischerboote und fand die Fischer ganz toll, die ruhig ihre Netze flickten, wo sie doch gerade draußen auf dem Meer ihr Leben riskiert hatten. Ich wollte dann Taucher werden. Unten herum schweben bei den Fischen, und las die Bücher von Jacques Cousteau und sammelte Klebebildchen für das Hans-Hass-Album “Vorstoß in die Tiefe”. Das Sammelalbum und die Bilder dafür wurden an Esso-Tankstellen verkauft, die zum Ölkonzern ExxonMobile gehörten. Vielleicht war der Graben zwischen Umweltschützern und Ölkonzernen damals noch nicht so tief, heute ist Exxon vor allem bekannt für die katastrophalsten Tankerunglücke, die die Welt gesehen hat.
Und Hans Hass ist tot (16. Juni 2013).

“Der Traum vom Fliegen” ist, glaube ich, immer so eine Kindersache gewesen. Solange er nicht wahr geworden war, haben ihn manche der großen Jungs und Mädchen weiter geträumt. Das ist natürlich vorbei. Wenn die Industrie etwas gründlich zerstört hat, ist es – neben der Natur – die Möglichkeit vom Unmöglichen zu träumen. Sie macht ja früher oder später alles möglich. Und zwar für jeden von uns.
Nebenbei wurde ihr alles geopfert, was wirklich wertvoll ist: Menschen, Landschaften, Dörfer und Städte, das Meer und vor allem das, was man vielleicht das “Soziale” nennen kann: die nichtökonomischen Beziehungen, die Gesellschaft erst erträglich machen.

Ob es früher besser war? Das interessiert mich so wenig wie Flugzeugtechnik. Jetzt jedenfalls ist es nicht gut und nach der Zersetzung der natürlichen Lebensgrundlagen verbreitet sich vor allem Angst. Keine kindliche Angst vor Monstern, eine erwachsene, die sich überall einschleichen und alles besetzen kann und die zum eigentlichen Lebensgefühl wird, ohne ihre Ursachen zu verraten.
Jeder hat eine Therapie nötig. Und die Psychoindustrie hält für jede Angst passende Angebote bereit: Flugangst kann man selbstverständlich auch therapieren.

Bei mir ist die Flugangst mit den Jahren einfach so verschwunden, wie auch meine kindliche Leidenschaft für’s Fliegen verschwunden ist. “Verschwunden” trifft nicht ganz zu, sie wurde ersetzt: Für die Angst vor dem Sterben brauche ich heute keine Flugzeuge mehr. Sie kommt jetzt zu mir durch den Tod der Menschen, die ich geliebt habe. Sie beginnen langsam auszusterben.
Auch der Wunsch zu fliegen, ist nicht einfach verschwunden. So wie ich damals davon geträumt habe, wirklich im Schlaf geträumt habe, abzuheben, zu schweben und höher zu steigen und mit einem unbeschreiblich aufregenden Gefühl über meine Stadt und immer weiter zu fliegen, so träume ich heute davon, meine Toten wiederzutreffen. Nichts wünsche ich mir mehr und nichts ist “kindischer”, also unmöglicher, als das.
Noch ist keine Industrie in Sicht, die diesen brennenden Wunsch erfüllen könnte.  Es bleibt uns nur selbst zu den Toten zu gehen, dorthin, wo sie mit Sicherheit nicht sind, wo sie sich aber finden lassen, in den Träumen und Wünschen, die eben nicht von einer Realität besänftigt werden, die öde und fertig industrialisiert ist. Die Toten sind da, wo wir sie haben wollen. Mit einer Ausnahme: Sie sind nicht mehr unter uns Lebenden.
Diese eine Ausnahme, die nicht irgendeine, sondern die entscheidende Ausnahme ist, muss man lernen auszuhalten. Irgendwie. Was es bedeutet, damit nicht zurecht zu kommen, kann man an den vielen Zynikern sehen, die das Leben selbst nicht zu schätzen wissen, weil es zu schmerzhaft ist. Zynisch ist es, alles Lebenswerte zu entwerten, weil es sterben wird.

Wer nicht zu früh stirbt, kommt irgendwann an den Punkt, an dem sich die eigenen Kreise, die bis dahin größer und größer wurden, wieder zusammenziehen. Die Möglichkeiten nehmen nicht mehr zu, sie nehmen plötzlich ab. Besonders schmerzhaft sichtbar wird das, wenn Freunde und Verwandte sterben, mit denen man eng verbunden war. Ein Teil des eigenen Lebens verschwindet mit ihnen und wird ersetzt … ja, durch was? … durch Traurigkeit und Erinnerungen? Das ist schwer auszuhalten.
Es ist schon keine geringe Anstrengung, die Toten nicht dafür zu verachten, dass sie gestorben sind. Dafür, dass sie uns zurücklassen mit Schmerzen, die sie uns als Lebende nicht zufügen konnten. Die Toten machen das eigene Leben schwerer und schwerer. Davor keine Angst zu haben, ist ja fast nicht möglich. Für diejenigen, die nicht vergessen wollen, gibt es keine andere Möglichkeit, als das zu ertragen.

 

Für Stefan und Bakri.

Bombodrom

Die Bombe ist ein unfassbares Monster, es wäre besser, es gäbe sie nicht. Aber was wäre dann: Metaphysik statt Physik?

Meine allgemeine Verfassung, oder wie nennt man diesen Zustand, der irgendwann nicht mehr weggeht, der dann die sogenannte “Persönlichkeit” sein soll, mit der man fortan klarkommen muss, etwa so wie mit der Akne, die ich bis dahin für ein großes Problem gehalten hatte, dieses Ding also setzte sich zusammen oder wurde von Grund auf umkrempelt, ich muss sagen, eigentlich weiß ich nicht, wie das genau ablief, dieses Ding entstand in einer Zeit, die – von heute aus gesehen – ziemlich normal war, würde ich sagen und die mir weniger irre vorkam, denn das damalige pubertär-katastrophische Grundgefühl war sowieso eingebettet in einen zeitgeistigen Alarmismus, der mir, so sah ich das jedenfalls, das Recht gab, spätestens mit 14, alle Hoffnungen auf ein langes, gesundes – GLÜCKLICHES – Leben frühzeitig zu begraben: Atomtod, Waldsterben – zuerst der Wald, dann DER MENSCH -, ja, der saure Regen, keine Ahnung, was aus dem geworden ist, der Wald steht aber noch, soweit ich weiß; das Fischsterben, wir durften als Kinder keinen Zeh in die Elbe stecken, und dann der Nato-Doppelbeschluss, das endgültige Ende, das sichere Todesurteil, Fegefeuer, … oder wie man damals noch sagte: atomarer Holocaust.

Mir jedenfalls machte das keine Angst. Es raubte mir nur jeden Lebensmut. Und: Ich wartete jeden Tag, Woche für Woche, Monate, letztlich viele Jahre darauf, dass es jetzt endlich mal passiert, dass die Sorgen ein Ende hätten, das einzig mögliche Ende… ich sah mich als Brandschatten an einer Ruinenmauer enden, wie ich es in einem Film über Hiroshima gesehen hatte: schwarze Umrisse menschlicher Körper, geisterhafte Negative, festgehalten vom atomaren Blitz im Moment des Verglühens. Damals kannte ich auch schon die Fotografie der verbrannten nackten Kinder, die weinend vor dem Napalm durch’s Reisfeld fliehen und auch die Filmaufnahme, die einen vietnamesischen Offizier zeigt, der einen vor ihm knienden Soldaten durch Kopfschuss tötet.

Im Berufsinformationszentrum sollte ich mir einen Beruf aussuchen. Ich dachte an Fotograf – man nahm wohl an, ich hätte nicht verstanden: Einen richtigen Beruf bitte, keine Traumtänzerei. Außerdem, die schlechten Augen, schon zwei Operationen, das schließe sich selbstverständlich aus. Gut, dann eben kein Beruf. War sowieso nicht meine Idee, arbeiten zu müssen. Wozu auch? Um den Atompilz zu fotografieren?
In den Schulstunden kritzelte ich kleine Notizhefte voll, ich konnte nicht gut zeichnen, aber der Atompilz war einfach, und der Rest der Seite wurde mit dem Anarcho A aufgefüllt, das passte gut zusammen und gab meine gesamte Weltanschauung wieder, mehr war nicht nötig, und nach einer Stunde wusste ich immerhin, was ich getan hatte: Die Welt war mir endlich scheißegal.

“Wach endlich auf”, sagte mein Klassenlehrer, der später für die SPD im Hamburger Senat saß. Halt die Schnauze, hätte ich gern geantwortet, und dass er die Finger von den Mädchen lassen soll. Bei den Hübschen, die schon entwickelt waren, griff er gern mit einem Finger in der Ausschnitt, zog ihnen das Shirt ein bisschen vom Körper ab und glotzte von oben auf die Tittchen, wie er das nannte. Er schämte sich nicht, er machte das auch in Gegenwart anderer Schüler, hauptsächlich der Jungs, denke ich, denen er damit vielleicht auch zeigen wollte, was ein Mann sich so alles erlauben darf.
“Wach auf”, ich hatte noch nie nackte Brüste gesehen, nur auf Bildern, ich hatte ihn schlagen wollen für sein schäbiges Verhalten, und wollte weiterschlafen, wenn es das bedeuten sollte, wach zu sein: ein grober, widerlicher Mensch.

Aufwachen also. Realistisch sein. Er hätte auch sagen können: “Werd mal Erwachsen”. Alles nicht mehr so schlimm finden; sich ein dickes Fell zulegen; die ständige Empörung ablegen, nicht immer gleich alles Skandalisieren; als Erwachsener weiß man, das gehört dazu; mit der Vernunft lässt sich erklären, wie es dazu kommt, nicht im Einzelnen natürlich, da bleibt alles unverständlich, sie ist nur die Instanz, die uns damit beruhigen kann, nicht mehr verstehen zu wollen: Verstehen wollen – ist unvernünftig.
Gewalt gehört dazu, Sex gehört dazu, Leid, Betäubung, Zerstörung, Schmerzen, der ganze Wahnsinn derjenigen, die sich für Realisten halten, die wach sind, und die sich nehmen, was sie kriegen können, Machtmissbrauch gehört dazu, und die auf ihr Recht bestehen, GLÜCKLICH sein zu wollen.
Ich verabscheue diesen Realismus.

Verschwende deine Tugend

Sport
Als ich einmal ganz entzückt war über eine Kleinigkeit, sagte jemand mir, das sei jetzt aber ziemlich übertrieben gewesen. Und ich schämte mich für einen kurzen stillen Moment. Dann fiel mir mein Basketball-Trainer ein, den die Schiedsrichter während der Spiele immer wieder ermahnen mussten, bitte nicht so euphorisch zu sein. Er reagierte empört auf die Ermahnungen und sagte dazu: “Ich lass mir doch die Freude am Spiel nicht verbieten”. Dann setzte er sich und gab Ruhe bis zum nächsten Punkt oder halbwegs gelungenen Pass, der ihn vor Begeisterung vom Stuhl riss. Niemals wurde unser Trainer laut, weil er etwas zu bemängeln hatte, er liebte das Spiel und er fand jeden seiner Spieler ganz großartig, obwohl wir meistens verloren haben. Als wir zum Auftakt eines Spiels einen perfekten Spielzug vortrugen und ihn mit Punkten krönten, rief er uns klatschend von der Seitenlinie zu: “Saubere Ausführung! Nächstes Mal bitte auf den gegnerischen Korb”. Das war keine Ironie, er sah das Gute immer im Detail. Trotzdem schämten wir uns ein bisschen. Dieses Spiel gegen den Tabellenführer hätten wir übrigens fast gewonnen, da unsere Gegner, allesamt brillante Techniker, mit unserer verwirrenden Spielweise nicht klarkamen.
Mir ging das alles durch den Kopf und was für einen Spaß wir dabei gehabt hatten, vor jetzt fast 25 Jahren. Dann sah ich mir unauffällig den Mann an, der neben mir saß und der mich gerade eben getadelt hatte, und fragte mich, ob er so etwas auch mal erlebt hatte. Er starrte weiter geradeaus, obwohl er meinen Seitenblick auf sich spürte und etwas nervös wurde. Könnte gut sein, dachte ich, wahrscheinlich hat er es nur vergessen.

Pornoise
Meine Nachbarin vom Treppenaufgang nebenan hat ein unverwechselbares Lachen. Zwar habe ich sie noch nie gesehen, und wahrscheinlich würde ich sie auch nicht erkennen, aber da ich mir inzwischen ein eigenes Bild von ihr gemacht habe, weiß ich sowieso, dass sie ein Zille-Original sein muss: Plump, rotwangig, versoffen, lüstern bis in die Haarspitzen, also dermaßen primitiv, dass man vor Scham den Blick abwenden möchte, es aber nicht kann. Sie ist laut, oft hat sie Gäste, dann wird viel getrunken und das Gelächter nimmt kein Ende. Sie lacht ununterbrochen, wiehernd, kreischend, manchmal empört, als müsste sie den Saufkumpanen auf die fummeligen Finger hauen. Später, nachts, die meisten Gäste sind gegangen, und ich hab wohl schon geschlafen, braut sich drüben ein Gewitter zusammen; erste Böen, die mich im Halbschlaf umwehen, ist da was? – dann wird es stürmischer, bis hin zu einem Gejaule, das nur kurz dauert, mich aber noch lange wach hält. Jedenfalls ist es nicht zu überhören, also bin ich dabei, unfreiwillig zwar, fasziniert und abgestoßen, praktisch unbeteiligt, theoretisch aber beschäftigt mit Grübeleien, die vom aufwühlenden Sound mit wechselnden Stimmungen unterlegt werden. Den Morgen danach beginne ich mit einem leichten Kater und schwermütigen Gedanken, insgesamt befinde ich mich in einer zersetzenden Gefühlslage: Bestimmt werde ich als Parasit wiedergeboren.

1. Schultag meines Bruders, 1972 (Foto/Familienalbum)

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Meine Zuckertüte ist nicht einmal halb so groß und es macht den Eindruck, als würde mir das überhaupt nicht gefallen. Mein Bruder steht da, einen ganzen Kopf größer als ich, und schaut in die Kamera, ernst – oder ängstlich? Zwischen uns steht unsere Mutter, die ausgerechnet in diesem Augenblick so fröhlich wirkt, wie selten. Mir war das egal, bei uns galt das Gleichheitsprinzip und das wurde hier empfindlich verletzt.

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