Ich hatte mir versprochen, dran zu bleiben, nur abzuschweifen, wenn es nötig werden würde, also oft, aber eben ausschließlich, um mein vielleicht zu festgefahrenes Denken zu umgehen. Das gelingt nicht so gut, wie ich es mir gewünscht hätte. Aber besser, als zu erwarten war, denn ich wusste nicht, wie es geht. Weiß es noch immer nicht. Ich denke nunmal, wie ich denke, das ist schwer umzubiegen. Und dem Denken folgt Handeln oder das Handeln geht voraus, was sicher nicht selten passiert, aber immer haftet meinen Handlungen etwas an, das wohl Ausdruck meines „Selbst“ ist und das ich beobachten und befragen möchte: Warum mach ich etwas so und nicht anders?

Inzwischen hat sich eine Ahnung eingeschlichen, was zur Selbstbefragung hilfreich ist. Es sind – wenig überraschend – gerade die Abschweifungen. Aber verwirrend sind sie auch und obwohl sie mir den Einstieg erleichtert haben, führen sie nun dazu, dass ich nicht mehr weiter weiß. Inzwischen fällt es mir schwer, mich zu erinnern, worum es mir ging. Warum Derealisationen? Hatte ich damit begonnen, weil ich mir ein bisschen Freiheit verschaffen wollte? Weil ich nicht mehr Ich sein wollte?

Am Anfang war der Tod – meiner Freunde und die anschließende Unaushaltbarkeit der einstürzenden Weltgewissheit. Denn die war nichts anderes gewesen, als die selbstverständliche Voraussetzung am Leben zu sein. Das Leben selbst war bis dahin ziemlich selbstverständlich. Es ergab sich aus dem Alltag. Und aus Erinnerungen an die eigene Geschichte, die angefüllt waren mit Menschen, die fast alle noch lebten. Mir ist – sozusagen theoretisch – nie bewusst geworden, wie sehr das Gefühl der Lebendigkeit am Leben der anderen hängt, also an den Menschen (und Tieren), die das eigene Leben begleiten und erfüllen.

Dann aber, mit dem realen Verlust dieser Menschen, verlieren die Erinnerungen plötzlich an Farbe, werden grau und unscharf und so befremdlich wie ein altes Foto, auf das man schaut und sich sagt: Aha, das war ich also als Kind. Die Verbindung ist gekappt und wird immer weniger wirklich mit dem Tod der Menschen, die die frühere Existenz verbürgten. Das sind natürlich die Eltern und Großeltern, die Geschwister. Und die Freunde, die wir schon als Kinder hatten. Nur ist beim Tod der Freunde die Überraschung darüber, wie real das Sterben ist, noch viel gewaltiger. Auch wenn es vielleicht nicht betroffener macht, als das Sterben der Eltern, steht es doch näher zum eigenen Tod. Die einfache Voraussetzung, am Leben zu sein, ist plötzlich nicht mehr selbstverständlich. 

Wenn ich jetzt versuche, klar zu sehen, was die tiefe Erschütterung über den Tod der Freunde verursachte, dann ist es nicht nur der Verlust ihres Lebens, der so traurig machte. Vielleicht ist dieser mitleidige, empathische Anteil der Trauer, bei dem es wirklich darum geht, die Toten zu bedauern, weil sie ihr Leben verloren haben, sogar ganz unbedeutend im Gegensatz zu dem Trauergefühl, das wir uns selber schenken, ob des großen Verlustes, den wir erleiden mussten. Aber worin bestand der Verlust? Wohl darin, dass es die gemeinsame Welt, – selbst wenn sie fast nur noch aus Erinnerungen bestand – nun plötzlich nicht mehr geben soll. Mit dem Tod verschwinden nicht nur reale Menschen aus unserem Leben, sondern auch die Möglichkeiten fast schon fiktionale Vergangenheiten durch geteilte Erinnerungen wiederaufleben zu lassen. Mit dem Verlust dieser Möglichkeiten wird ein Teil der eigenen Geschichte unwiderbringlich irreal. Zwar lässt sich alles noch erzählen wie zuvor, aber durch den Mangel an Bestätigung gehört es jetzt zum Reich der Fiktionen, in dem der Realitätsbezug nur noch schwach empfunden wird. Und er wird schwächer, je älter man wird. Mit jeder für uns bedeutenden Person, die wir verlieren, nimmt also auch unsere eigene Bindung an die Welt ab. Unser eigenes Leben beginnt sich zu verflüchtigen, der Tod rückt näher.

Die Toten sind tot, sie benötigen unsere Empathie nicht mehr, das wissen wir. Aber wir, die wir trauern, können jeden Trost, den wir uns geben können, gebrauchen, um weiterzuleben.
Manche Trauer fühlt sich wie eine tödliche Krankheit an. Dass es danach weitergehen soll wie eh und je, erscheint unvorstellbar. Und obwohl die Trauer ihr Objekt natürlich in dem geliebten Toten hat, handelt es sich dabei um ein gespaltenes Objekt, man könnte sagen, es gibt ein inneres und ein äußeres Objekt, von dem uns nur das letztere auf Dauer erhalten bleibt. Dieses innere Objekt der Trauer hat mit der verstorbenen Person (also dem äußeren Objekt) nur insofern zu tun, als dass es die psychische Repräsentation dessen ist, was diese Person für uns bedeutete und was wir nach ihrem Tod schmerzhaft vermissen. 

Ein Mensch stirbt, er löst sich in seine Bestandteile auf und verschwindet, bis er real nicht mehr existent ist. Zurück bleibt ein Negativ seiner Existenz, das sich als Schatten seiner Abwesenheit bei den Menschen bemerkbar macht, die ihn vermissen. „Er fehlt“, heißt es dann und so ist es auch. An diesem Fehlen manifestiert sich die Bedeutung eines Lebens ebenso, wie in allem, was der Verstorbene an positiven Leistungen der Welt hinterlassen hat.

Ich bin mir nicht sicher, ob es eine eher persönliche Erfahrung ist oder ein allgemeiner Aspekt jeder Trauer, jedenfalls mein Verlust bestand auch darin, die Illusion verloren zu haben, dass wir noch Zeit hätten, wieder ein gemeinsames Leben führen zu können, das wir dann gestalten und aktiv führen würden, was auch meinte, die verlorene Zeit, die wir nicht gemeinsam verbracht hatten, wieder aufzuholen. Erst als ältere Männer vielleicht, die im Garten sitzend ihre Erinnerungen austauschen. Dieses Bild war für mich immer tröstlich. Aber wie es mit Illusionen so ist, sie werden von der Realität überholt, und wenn sie so sentimental sind wie meine, erscheinen sie nachträglich ziemlich lächerlich.

Mit ein bisschen Abstand (vom Anfang der Derealisationen) komme ich auch auf den Gedanken, es könnte sich um eine Angeberei, um eine aufgeblasene Rationalisierung meiner Traurigkeit handeln. Derealisationen? Ist das nicht genau das Gegenteil von „Trauerarbeit“? Die, wenn ich es richtig verstehe, doch eher eine Selbstforschung zum Zweck der emotionalen Stabilisierung des Trauernden sein soll. Während meine Idee darin bestand, von mir abzulassen, meine Identität und was ich dafür halten konnte, unsicher werden zu lassen und mir die Möglichkeit zu geben, jeder und alles zu sein, nur nicht ich. Das ist ziemlich verstiegen und wohl auch anmaßend. Aber für mich viel näherliegend, als ein ICH zu festigen, dass ich gerade nicht sein wollte. 

Ich erinnere mich an viele Reisen, an viele Landschaften, Städte und Dörfer und an immer die gleiche Frage: Wie ist es wohl hier zu leben? Was wäre, wenn ich hier aufgewachsen wäre usw? Es gibt keine wirkliche Antwort darauf, nur Fantasien und Einbildungen, die aber so groß werden können, dass sie zu einem anderen Leben führen. Nicht an diese Veränderbarkeit des Selbst glauben zu können, Angst davor zu haben und letztlich alles zu tun, um Veränderung zu verhindern, ist ein Symptom einer Krankheit, die zum frühzeitigen Tode führt – einem Tod, mit dem man noch viele Jahre leben kann.

Mir die Welt fremd werden zu lassen, sollte heißen, um den Tod zu kreisen. Jeden Gedanken, jedes Thema vor die Absurdität zu stellen, dass sich alles verändert und alles verschwindet. Das ist natürlich keine originelle Idee, Philosophie, Literatur, Kunst, irgendwie fast alles, was gedanklich über reine Funktionalität hinausgeht, führt letztlich zu diesem Punkt. Es ist aber, und darauf kommt es an, eine ganz persönliche Frage, wie nah man den Tod schon im Leben an sich heranlässt. Da sind Philosophie und Lesen oft eher Mittel, um sich eigene Gedanken vom Leib zu halten. Das macht es so schwierig, zu begreifen; obwohl Texte und Bilder uns den Tod zeigen, wie er sein könnte, sind sie zugleich eine ästhetische Form der Distanzierung. 

Wer schon mal Totenmasken gesehen hat, kennt vielleicht die Indifferenz des Gefühls, das ihr merkwürdiges Aussehen hinterlassen kann: Sie wirken menschlich und absolut individuell, aber eigentlich wie aus einer anderen Welt. Sie sind eher unheimlich, als berührend. An ihnen zeigt sich der Tod in seiner Fremdheit, nicht als das, was uns geschehen wird, sondern was Anderen zugestoßen ist. 
Vielleicht ist das gut so und man sollte es dabei belassen. Wie ich es allerdings erfahren habe, kann der Tod der Anderen das eigene Leben so weit in den Schatten stellen, dass es entweder in Stumpfheit oder in dauernder Traurigkeit versinkt. Das einfach geschehen zu lassen, wäre idiotisch, da erscheint der Versuch ein anderer zu werden gleich viel vernünftiger. Also weiter.