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Monat: Juni 2019

Derealisationen 9

Nochmal zur nachholenden Trauer (DR8). An das Gefühl, um etwas lange Vergangenes zu trauern, knüpfte sich der Gedanke, dass die Trauer überleben konnte, weil etwas an ihr war, das damals noch nicht empfunden wurde. Dass die Erinnerung, an die sie gebunden ist, plötzlich seltsam anders erscheint. „So hab ich das noch nie gesehen“, könnte man sagen und fragen, warum nicht und was sich verändert hat? 

Vielleicht ist dieses Gefühl identisch oder vergleichbar mit dem, was Freud als das „Unheimliche“ bezeichnete. Das sei, so sagte er, die Wiederkehr des Verdrängten, das wie ein Gespenst aus dem Unbewussten auftaucht und das beim Übertritt ins Bewusste, wie immer das geschehen mag, nun fremd, zugleich aber irgendwie auch bekannt zu sein scheint. Die im Wort versteckten Bedeutungen, heimlich und heimisch, sprechen laut Freud für diesen Zusammenhang: Und das „Un-„ steht nun für die Entbergung des im Eigenen (heimischen) versteckten (heimlichen).
Vielleicht spielt das Unheimliche eine Rolle bei der nachholenden Trauer, jedenfalls ist das Auftauchen von etwas bekannt Unbekanntem an ihr beteiligt, nämlich das neuerliche Gefühl einer Traurigkeit, die man lange überwunden glaubte.

Allerdings scheint es bei Freud doch um etwas anderes zu gehen. Die Trauer, die ich meine, ist erstens nicht unheimlich, sondern einfach sehr traurig, und zweitens knüpft sie sich an Erinnerungen, die nicht oder nur halb verdrängt waren. Im Gegenteil, es sind die gut bekannten Erinnerungen, die plötzlich – nur durch einen kleinen Anstoß – in einem anderen Licht erscheinen können. Das ist ja das Traurige: Das plötzliche Gefühl etwas Wichtiges, als es geschah, gar nicht wahrgenommen zu haben oder darüber weggegangen zu sein oder es mit Gewalt oder aus Angst oder aus Dummheit falsch gedeutet zu haben. Vielleicht kann ich es so sagen: Sich nicht getraut zu haben, etwas zu empfinden, als es sich ereignete.

Später, vielleicht aus einer Einsamkeit, oder mit zunehmenden Alter durch das natürliche Zurückfallen der Gedanken in die verflossene Lebenszeit, stoßen wir in Erinnerungen auf Gefühle, die nicht gelebt worden sind, die aber da waren, und – das ist seltsam – immer noch da sind, eingeschlossen wie in eine Glaskugel, die vor unseren Augen zerbricht. Sie entlässt eine Trauer, um die verpasste Lebendigkeit, die sich damals in Gefühlen hätte äußern wollen, aber nicht konnte.

Derealisationen 8

Ich weiß nicht mehr wo es stand, aber Nietzsche hat mal geschrieben, dass wir unserer Kindheit, wenn wir erwachsen sind, nur als Trauernde begegnen können. Damals, als ich es las, dachte ich, es kommt darauf an, wie es so gewesen war in der Kindheit. Man könnte ja auch froh sein, dass es vorbei ist.
Heute vermute ich, er lag ganz richtig. Ich hatte den Gedanken nur halb begriffen, nämlich in dem Sinne, dass die Trauer sich darauf bezog, nicht mehr Kind zu sein und also nie wieder diesen glücklichen Zustand erleben zu können. Das ist die eine Sache, die andere ist noch viel trauriger und war mir deshalb damals vielleicht nicht in den Kopf gekommen: Eine furchtbare Kindheit gehabt zu haben, kann den Erwachsenen im Rückblick erst recht traurig machen.

 Wahrscheinlich gibt es das Gefühl ziemlich oft, betrogen worden zu sein um die kindliche Unbeschwertheit. Hatte man als Kind mehr Glück, weiß man als Erwachsener, dass diese Unbeschwertheit später auf dem natürlichen Weg der Ernüchterung verschwindet.
Und es gibt eine weitere Ursache für diese Trauer, denn selbst eine schreckliche Kindheit war nicht nur schrecklich. Das liegt am Kind, das aus allem das Beste macht. Selbst aus den größten Katastrophen holt es noch das heraus, was erträglich und lebenswert ist. Hätten Kinder diese natürliche Fähigkeit nicht, würden die meisten ihre Eltern nicht lieben. 

Dann ist es also so: Erwachsene trauern auf jeden Fall ihrer Kindheit nach. So oder so. Mehr oder weniger – das ist auch Typ abhängig.

Als ich neulich an eine bestimmte Phase meiner Kindheit dachte, ich war drei Jahre alt und wir lebten auf dem Land, fiel mir eine traurige Begebenheit ein. Ich spürte plötzlich wieder die Traurigkeit von damals, die ich nur in den Griff bekam, indem ich die Erinnerungen fallen ließ und mich dazu brachte, an etwas anderes zu denken.
Später kam ich aber darauf zurück, weil es mich etwas erschrocken hatte, und ich genauer wissen wollte, was mich eigentlich so verunsichert hatte. Erinnert hatte ich mich an unsere Katze Mieke, die vom Nachbarn, einem Bauer, getötet worden war. Es gab keinen guten Grund dafür, natürlich nicht, aber er hatte uns gewarnt, es zu tun, falls die Katze wieder auf seinem Grundstück herumliefe. Und er hat es dann getan, wie sollten wir es verhindern, Katzen gehen ihre eigenen Wege. Als Jäger und Hundeliebhaber hielt er die Katze wahrscheinlich für schlecht erzogen, er hatte uns ja gewarnt.

Als ich also daran dachte, war ich erstaunt, wie frisch die Trauer war. Und im nächsten Moment hätte ich heulen können, aber wie gesagt, ich würgte die traurigen Erinnerungen ab. Und saß dann da mit dem seltsamen Gefühl, eine Trauer zu empfinden, die ich damals nicht empfunden hatte. Obwohl ich natürlich wahnsinnig traurig gewesen war und viel geheult hatte. Ich meine mich zu erinnern, dass mich damals vor allem der Verlust erschütterte, dass vorweggenommene Gefühl, wie sehr sie mir fehlen würde. Das ging natürlich bald vorüber. Und wir haben sie auch nicht tot gesehen, ihren Kadaver nicht gefunden, sie war einfach weg. Also stellte ich mir vor, sie sei irgendwo im Wald, und das war dann wirklicher für mich, als ihr tatsächlicher Tod. So geht das, so ist es auszuhalten, wenn man Kind ist.

Heute geht das nicht mehr, der Tod ist die Realität, die geblieben ist. Und die Unbegreiflichkeit der Tat. Wieso hat er das getan? Bestimmt hab ich das damals meine Mutter gefragt und selbstverständlich keine Antwort bekommen, die irgendwas erklärt hätte. Die Bosheit ist ein schwer zu erklärendes psychologisches Phänomen, richtig schlüssig erscheint sie nie.

Die Heftigkeit dieser alten, aber frischen Trauer überrumpelte mich, also versuchte ich mir zu erklären, wie sie hatte so lange überleben können. Und kam auf den Gedanken einer sozusagen nachholenden Trauer, die das frühere Empfinden vollständiger macht, also die Trauer um jene Aspekte erweitert, die damals noch nicht zugänglich waren. Denn was ich deutlich spürte, war eine Traurigkeit, die den Täter dieses Mal mit einbezog. Nicht das er mir leid tat, es ging um das „erwachsene“ Wissen, dass solche Taten menschlich sind. Während es für mich damals ein monströser und unbegreiflicher Einzelfall war, der mir zudem gar nicht ganz klar wurde, weil meine kindliche Vorstellungskraft nicht ausreichte, mir auszumalen, wie jemand ein Gewehr anlegt – im Spiel machte ich das oft -, ein Lebewesen ins Visier nimmt und wirklich abdrückt. Tötet.

Derealisationen (7)

Ziemlich missverständlich: „die Bereitschaft, Fremdheit bestehen zu lassen, um sich näher zu kommen.“ (DR6) Das heiß nicht, die Anderen nicht auch mal ändern zu wollen. Sie im eigenen Sinne und Interesse zu beeinflussen (Was wäre sonst Politik?). Das seltsame therapeutische Dogma, immer nur sich selbst ändern zu können, ist Selbstaufgabe und Weltverneinung zugleich. Paartherapeutische Homöopathie! Oder sogar: Desinteresse am Anderen, getarnt als Toleranz. Außerdem bedeutet diese scheinbare Toleranz nicht, Fremdheit wirklich zu akzeptieren, sondern eher sie nicht mehr wichtig oder wahrzunehmen. Sie ist das Gegenteil von Empathie.

Fremdheit zu akzeptieren, hat mit einem Willen zur Veränderung erstmal gar nichts zu tun. Ob es nun das Selbst oder den Anderen betrifft. Akzeptanz des Fremden liegt sozusagen noch vor dem eigenen Wollen; sie besteht in der passiven Bereitschaft überhaupt anzunehmen, dass es vom Selbst Unabhängiges gibt.

Wer sich lieber als Teil von allem sehen will – biologisch, spirituell, kosmisch und so -, muss ja – paradoxerweise – erst annehmen, dass es von ihm Unterschiedenes gibt. Das psychologische Konstrukt des Selbst sollte daher als Medium verstanden werden, durch das Person und Welt miteinander vermittelt werden. Das Selbst ist die Öffnung zur Welt, die wir als Wesen mit Bewusstsein brauchen und – auch paradox –  zugleich das, was uns als eigenständiges Wesen vom Rest der Welt unterscheidet. 

Das heißt, dass wir uns nicht als Selbst begreifen könnten, gäbe es nicht die anderen, die auch ein Selbst sind. Und: Je empathischer diese Fremdwahrnehmung ist, desto besser lernen wir uns selbst kennen.

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