Die Bombe ist ein unfassbares Monster, es wäre besser, es gäbe sie nicht. Aber was wäre dann: Metaphysik statt Physik?

Meine allgemeine Verfassung, oder wie nennt man diesen Zustand, der irgendwann nicht mehr weggeht, der dann die sogenannte “Persönlichkeit” sein soll, mit der man fortan klarkommen muss, etwa so wie mit der Akne, die ich bis dahin für ein großes Problem gehalten hatte, dieses Ding also setzte sich zusammen oder wurde von Grund auf umkrempelt, ich muss sagen, eigentlich weiß ich nicht, wie das genau ablief, dieses Ding entstand in einer Zeit, die – von heute aus gesehen – ziemlich normal war, würde ich sagen und die mir weniger irre vorkam, denn das damalige pubertär-katastrophische Grundgefühl war sowieso eingebettet in einen zeitgeistigen Alarmismus, der mir, so sah ich das jedenfalls, das Recht gab, spätestens mit 14, alle Hoffnungen auf ein langes, gesundes – GLÜCKLICHES – Leben frühzeitig zu begraben: Atomtod, Waldsterben – zuerst der Wald, dann DER MENSCH -, ja, der saure Regen, keine Ahnung, was aus dem geworden ist, der Wald steht aber noch, soweit ich weiß; das Fischsterben, wir durften als Kinder keinen Zeh in die Elbe stecken, und dann der Nato-Doppelbeschluss, das endgültige Ende, das sichere Todesurteil, Fegefeuer, … oder wie man damals noch sagte: atomarer Holocaust.

Mir jedenfalls machte das keine Angst. Es raubte mir nur jeden Lebensmut. Und: Ich wartete jeden Tag, Woche für Woche, Monate, letztlich viele Jahre darauf, dass es jetzt endlich mal passiert, dass die Sorgen ein Ende hätten, das einzig mögliche Ende… ich sah mich als Brandschatten an einer Ruinenmauer enden, wie ich es in einem Film über Hiroshima gesehen hatte: schwarze Umrisse menschlicher Körper, geisterhafte Negative, festgehalten vom atomaren Blitz im Moment des Verglühens. Damals kannte ich auch schon die Fotografie der verbrannten nackten Kinder, die weinend vor dem Napalm durch’s Reisfeld fliehen und auch die Filmaufnahme, die einen vietnamesischen Offizier zeigt, der einen vor ihm knienden Soldaten durch Kopfschuss tötet.

Im Berufsinformationszentrum sollte ich mir einen Beruf aussuchen. Ich dachte an Fotograf – man nahm wohl an, ich hätte nicht verstanden: Einen richtigen Beruf bitte, keine Traumtänzerei. Außerdem, die schlechten Augen, schon zwei Operationen, das schließe sich selbstverständlich aus. Gut, dann eben kein Beruf. War sowieso nicht meine Idee, arbeiten zu müssen. Wozu auch? Um den Atompilz zu fotografieren?
In den Schulstunden kritzelte ich kleine Notizhefte voll, ich konnte nicht gut zeichnen, aber der Atompilz war einfach, und der Rest der Seite wurde mit dem Anarcho A aufgefüllt, das passte gut zusammen und gab meine gesamte Weltanschauung wieder, mehr war nicht nötig, und nach einer Stunde wusste ich immerhin, was ich getan hatte: Die Welt war mir endlich scheißegal.

“Wach endlich auf”, sagte mein Klassenlehrer, der später für die SPD im Hamburger Senat saß. Halt die Schnauze, hätte ich gern geantwortet, und dass er die Finger von den Mädchen lassen soll. Bei den Hübschen, die schon entwickelt waren, griff er gern mit einem Finger in der Ausschnitt, zog ihnen das Shirt ein bisschen vom Körper ab und glotzte von oben auf die Tittchen, wie er das nannte. Er schämte sich nicht, er machte das auch in Gegenwart anderer Schüler, hauptsächlich der Jungs, denke ich, denen er damit vielleicht auch zeigen wollte, was ein Mann sich so alles erlauben darf.
“Wach auf”, ich hatte noch nie nackte Brüste gesehen, nur auf Bildern, ich hatte ihn schlagen wollen für sein schäbiges Verhalten, und wollte weiterschlafen, wenn es das bedeuten sollte, wach zu sein: ein grober, widerlicher Mensch.

Aufwachen also. Realistisch sein. Er hätte auch sagen können: “Werd mal Erwachsen”. Alles nicht mehr so schlimm finden; sich ein dickes Fell zulegen; die ständige Empörung ablegen, nicht immer gleich alles Skandalisieren; als Erwachsener weiß man, das gehört dazu; mit der Vernunft lässt sich erklären, wie es dazu kommt, nicht im Einzelnen natürlich, da bleibt alles unverständlich, sie ist nur die Instanz, die uns damit beruhigen kann, nicht mehr verstehen zu wollen: Verstehen wollen – ist unvernünftig.
Gewalt gehört dazu, Sex gehört dazu, Leid, Betäubung, Zerstörung, Schmerzen, der ganze Wahnsinn derjenigen, die sich für Realisten halten, die wach sind, und die sich nehmen, was sie kriegen können, Machtmissbrauch gehört dazu, und die auf ihr Recht bestehen, GLÜCKLICH sein zu wollen.
Ich verabscheue diesen Realismus.