Das Gedächtnis ist zwar lückenhaft und es wählt nach subjektiven Kriterien aus, was es behalten möchte, grundsätzlich ließe sich aber alles erinnern, was einmal erlebt wurde. Es gibt Techniken, die dabei helfen, das Vergessen zu verlernen, wie die vergessene Kunst der Mnemonik zum Beispiel oder das Netz, das Internet. Das Netz als technische Erweiterung des Gedächtnisses zu betrachten, wäre allerdings nicht mehr als ein technophiles Fantasma. Zwar ist das Prinzip der Vernetzung grundsätzlich zum Aufbau von Gedächtnisleistungen notwendig und daher mit einigen Funktionen technischer Netzwerke vergleichbar, der wesentliche Unterschied aber liegt nicht in den Modi der Verarbeitung, sondern im Gebrauch; das Gedächtnis erinnert, das Netz behält und wiederholt (oder holt wieder). Dieser formale Unterschied ist für eine bisher unüberbrückbare Differenz zwischen Technik und Organismus verantwortlich: Während im Leben keine Wiederholung möglich ist, ergibt schon die einfachste technische Idee keinen Sinn, ohne die grundsätzliche Möglichkeit, Vorgänge genau reproduzieren zu können.

Nichts Neues entsteht in der Wiederholung, dagegen ist jede Erinnerung etwas Neues. Erinnerungen fügen der erlebten Vergangenheit etwas hinzu, das sie gegenwärtig hält. Wie sich dieses Neue bestimmen oder messen ließe, ist schwer zu sagen. Die passende Maßeinheit wäre wohl die Intensität des Gefühls, welche die Erinnerungen begleitet. Insofern sind Erinnerung und Wiederholung Phänomene, die unterschiedlichen Existenzbereichen angehören: Wiederholungen sind ausschließlich technisch realisierbar und viel exakter als Erinnerungen, aber biographisch ineffizient, weil sie am Maß der Intensität nicht zu unterscheiden sind. Ihnen fehlt es an der dramaturgischen Differenz, die Erinnerungen auszeichnet: Was als wichtig empfunden wird, wird in der Regel eher erinnert als Unwichtiges. Gerade die Gleichmacherei, das alles Behalten und nichts Vergessen der technischen Archive, macht sie strukturell lebensfremd.

Damit ist allerdings nicht gesagt, dass sich Erinnerungen immer auf reale Erlebnisse beziehen müssen. Wir verknüpfen Gefühle auch mit Ereignissen, die wir nie erlebt haben. Wenn wir lesen, Filme sehen oder Beiträgen in sozialen Medien folgen, sind Gefühle nicht suspendiert, weil sie medial vermittelt werden. Manchmal ist gerade das Gegenteil der Fall; erst das Medium schafft den Gefühlsraum, der es erlaubt, sich so zu erfahren, wie es dem eigenen Selbstbild entspricht.
Es macht den besonderen Charakter von Medien aus, Techniken und Menschen so in Beziehung zu setzen, dass sie miteinander kommunizieren können. Daraus ergibt sich (zumindest theoretisch) auch die Möglichkeit, jenseits von Erinnerung und Wiederholung eine dritte Form der Retrospektion zu erfinden. Das wäre eine mediale Chronologie, die es uns möglich macht, aus technisch gespeichertem Material und eigenen Erinnerungen ein Patchwork an realen und medialen Beziehungen zu basteln, die es uns erlauben, die Vergangenheit so zu sehen, als wäre sie in Zukunft veränderbar. Wir kennen solche Umschriften aus der Psychotherapie (aber auch als Gehirnwäsche). Immer geht es darum das Erleben des eigenen Erlebens so zu verändern, dass die eigene Vergangenheit nicht zwanghaft wiederholt werden muss.

Umso erstaunlicher ist es, dass eine von digitalen und visuellen Medien bestimmte Kultur wie unsere unter einer Überlast der Vergangenheit leidet. Offenbar unfähig, Neues hervorzubringen, werden in den Massenmedien Wiederholungen produziert, die sich in Erinnerungen verwandeln sollen. Der Zuschauer (oder Hörer) soll sich an sich selbst erinnern, wie (glücklich) er war, als er eine alte TV-Serie, einen Oldie oder Film zum ersten Mal sah oder hörte. Tatsächlich stellt sich aber das erschlagende Gefühl verflossener Zeit ein. Die dabei erzeugte Intensität läuft in depressive Verstimmungen aus, da der Gedanke “einmal jung gewesen zu sein” nicht auf die Zukunft hin öffnet, sondern in der Vergangenheit verharrt. Das Versprechen der Popkultur, die Langeweile der Gegenwart aufzubrechen und Biographien zu verändern, indem sie überhaupt aufzeigt, dass Menschen sich verändern können, wenn sie ihren Wünschen folgen, dieses Versprechen scheint nicht mehr zu gelten, seit popkulturelle Retromoden notwendige Entwicklungen blockieren, statt sie anzustoßen. Immer neue Schleifen von Wiederholungen sind nicht geeignet, die Zukunft zu erfinden.
Die Popkultur befindet sich heute in dem seltsamen Zustand der Gleichzeitigkeit ihrer gesamten Geschichte; alles was war, ist wieder da, ohne dass zu verstehen wäre, was das eigentlich soll. Diese manische Phase der Wiederholung schlägt langsam um in eine kulturdepressive Episode: Pop scheint die Kraft verloren zu haben, unsere Kultur erneuern zu können. Das ist immerhin neu … aber auch dystopisch.
In der Vergangenheit haben Subkulturen wie Punk oder zuletzt Hiphop gerade aufgrund ihrer radikalen Ablehnung der vorherrschenden Kultur den Effekt gehabt, positive Energie freizusetzen, die dann zur kreativen Zerstörung des institutionalisierten Mainstreams führte. Niemand konnte das Alte noch hören oder sehen wie vorher, jetzt gab es eine Störung, ein Gegenbild zu der konservativen Behauptung, dass die Realität unumstößlich sei. Kein anderer Slogan als das “No Future” der Punks war jemals besser geeignet, um das paradoxe und dialektische Verhältnis von Pop zur Gegenwart aufzuzeigen: In der totalen Verneinung der Hoffnung auf eine bessere Zukunft lag zugleich die Kraft, Wut zu erzeugen, eine starke Intensität, die in der Lage ist, den alten Krempel abzuräumen und Platz zu schaffen für etwas Anderes. Genau das ist die notwendige Voraussetzung, um Neues zu schaffen, also den Ausblick auf eine andere Zukunft zu ermöglichen.
Unsere Gegenwart erschöpft sich dagegen in leidenschaftslosen Wiedererzählungen vergangener Moden, die zu schwach sind, um sich selbst abzuschaffen. Es bedürfte einer Möglichkeit des Sich-Selbst-Fremdwerdes, alienation, einer neuen Seltsamkeit, die die konformistische Normalität von verinnerlichten Werbe- und Idealbildern durchbricht. Obwohl die Demokratisierung der technischen Medien heute Möglichkeiten bieten würde, die Selbstfiktionalisierung und Neuerfindung leicht zu machen, bringen sie eher so etwas wie soziale Entropie hervor. Der Anpassungsdruck ist durch die Allgegenwart der Medien gestiegen. Und der Wunsch “mal ganz anders zu sein” ist derzeit selbst bei jungen Leuten kaum zu erkennen. Statt Ausbrüche aus der ökonomischen und biografischen Vernunft zu fördern, erhöhen die sozialen und die Massenmedien den Druck auf alle Nutzer ständig präsent zu sein und machen Anwesenheit zum Selbstzweck, weil Klickraten und Quoten das Geschäft betreiben. Allgemein gilt als sicher, dass die Aufmerksamkeitsspanne der Nutzer nur gering ist und weiter sinkt aufgrund der ständigen Überfütterung. Alle ausgesandten Botschaften haben sich deshalb Regeln zu unterwerfen, die als Gleichmacherei nicht ausreichend beschrieben wären. Es handelt sich vielmehr um eine Regression von Kommunikation, die Gedankenlosigkeit fördert, und auf Kürze, sofortiges und anstrengungsloses Verstehen und Wiederholung setzt. Was wir zu sehen und hören bekommen, wird sich immer gleicher (und damit technischer). Nur die Möglichkeiten mehr davon zu konsumieren, nehmen ständig zu. Vielleicht befinden wir uns in einer Phase des technischen Denkens, die uns alle erfolgreich damit infiziert hat, wie Roboter zu träumen: Wir wären gern wie alle anderen, um richtige Menschen zu sein.