michmaschine

Lost in Media

Monat: Juni 2016

Wochen 22&23 (Mai/Juni)

Die Wochenchronik registriert die Medienprodukte, mit denen die MICHMASCHINE unablässig gefüttert wird.

  • Fest&Flauschig: Weltkrieg für Einsteiger (Streaming/Spotify) Podcast von Olli Schulz und Jan Böhmermann
  • The Big Short (DVD/Film) von Adam McKay
  • Das freundliche Gesicht der AfD (online/faz.net) TV-Kritik zur Talksendung Anne Will von Frank Lübberding
  • Kleiner Mann, warum? (online/freitag.de) Artikel von Nils Markwardt
  • Vom Leid mit den Leitmedien (online/literaturkritik.de) Rezension von Lothar Struck
  • Victor Klemperer: LTI (Buch)

Der Friseur – Moabit kommt

Wo viele Jahre ein mit Druckerzeugnissen vollgestopfter Zeitungsladen sein am Ende tristes Dasein fristete, ist ein hiper Friseur eingezogen. Junge Menschen in Röhrenhose, mit Kopfbedeckung auch im Hochsommer, Bart (soweit möglich), dick gerandeter Brille, Nasenring sowie Tattoo signalisieren in authentischer Weise, dass man hier zu immensen kreativen Leistungen prädestiniert und bereit ist. Sicher sind alle große Idealisten oder wollen zumindest so erscheinen. Individualismus, unbedingter Wille zur kreativen Gestaltung nicht nur des Haupthaares, sondern des gesammten Lebens, Wettbewerbsfähigkeit und gediegenes Stilempfinden bilden hier keinen Gegensatz, sondern amalgamieren auf höchstem Ich-Level miteinander. Hinzu kommt ein deutlich sichtbarer bildungsbürgerlicher Hintergrund: Alle paar Tage erscheint auf einer Schiefertafel, daselbst mit Kreide beschrieben, ein neues Sprüchlein für die geschätzte Kundschaft, die anscheinend prinzipiell mehrheitlich im Freundeskreis angesiedelt ist. Neoliberale Weisheit wird feil geboten, ewig geltend und von bekannten Klassikern ausgebrütet. Deren Lebensweisheiten waren nicht immer vom Geist des Individualismus resp. Egoismus und des freien Marktes durchdrungen – bei den jungen Barbieren aber gibt es nur das: den Einzelnen mit dem festen Willen zu Erfolg, Leistung, Lifestyle, Selbstverwirklichung, zu Innovation, Einzigartigkeit, Risikobereitschaft, Glück. Wer auf Gesellschaft verweist, also bestehende Ordnungen, Institutionen, Zwänge, ist am falschen Ort. Unangepasstes Angepasst-Sein wird hier geschätzt.

Gesellschaft gibt es nicht. Von sowas reden nur Menschen mit negative Vibes oder Hartz IV-Empfänger. Solange der Zitatenschatz nicht erschöpft ist, wird an der Selbstermächtigung jedes einzelnen Menschen gearbeitet, d.h. vor allem: Grund zu Jammern oder zu Ohnmachtsgefühlen gibt es nicht. Das scheint hier vollends verinnerlichte Selbstverständlichkeit. Wer seine Biographie nicht selbst schreibt bzw. dazu zu schwach ist, hat selber Schuld. – Und wer es immer noch nicht verstanden hat, schaue unter Erfolgszitate.de nach – oder eben auf besagte Schiefertafel. (Nach dem Sinnspruch folgt der Gruß an die werte Kundschaft, immer mit Aufforderungscharakter, etwa: Genießt Euer Wochenende!) Die letzte handgeschriebene Botschaft lautet:

„Auf der Suche nach neuen Inspirationen sind wir mal weg! (Urlaub)

Das Außergewöhnliche geschieht nicht auf glattem, gewöhnlichem Wege (Goethe)

Schöne Zeit Euch!“

große Wir, das (Wörterbuch)

Als Stilmittel politischer Rhetorik und Propaganda wird das große „Wir“ oft eingesetzt, wenn ein gesellschaftlicher Zusammenhalt behauptet werden soll, der in der Realität nicht existiert. Als ein Klassiker des großen „Wirs“ kann die Aussage gelten: „Wir müssen alle den Gürtel enger schnallen“. Damit soll der Eindruck erweckt werden, dass unter politischen Maßnahmen zu Lasten der ärmeren Bevölkerungsschichten, auch die Reichen leiden werden. Da dies faktisch und offensichtlich nie der Fall ist, kann diese stereotype Propagandalüge zwar leicht durchschaut werden, durch ständige Wiederholung soll sie dennoch unterschwellig beruhigend auf die tatsächlich Betroffenen einwirken.

Ein weiteres und allgemein bekanntes Beispiel ist die Standardformel: „Wir lassen uns unsere freie Lebensweise nicht von Terroristen nehmen“. In diesem Fall wird das große „Wir“ dazu benutzt, um nach Terroranschlägen oder Angriffen durch einen äußeren Feind, für bestimmte Bevölkerungsgruppen (ethnische Minderheiten, Flüchtlinge, Jugendliche, Arme, Radikale, Asoziale etc.) genau die Freiheiten einzuschränken, die angeblich geschützt werden sollen. Ebenfalls wird nach Terroranschlägen gern behauptet, sie seien „Angriffe auf unsere gemeinsamen Werte“ gewesen.  Diese Leerform kann je nach Bedarf mit verschiedenen Bedeutungen gefüllt werden, was meist der Fantasie des Publikums selbst überlassen bleibt. Die propagandistische Funktion dieser Formulierung besteht zunächst darin, „uns“ alle zu Opfern des Terrors zu machen, indem sie eben nicht auf die Toten und Verletzten hinweist, sondern auf unsere ideologische Wertegemeinschaft, das große Wir, das damit zum eigentlichen Ziel der Terroristen erklärt wird.  Der reale Gewaltakt wird mit dieser Aussage um eine symbolische Bedeutung erweitert,  die nahe legt, dass die ideelle Existenz von Werten genau in der gleichen Weise ausgelöscht werden kann, wie es mit Menschen oder materiellen Werten geschieht. Tatsächlich können normative Werte zwar selbst aufgegeben, aber nicht von einem äußeren Feind zerstört werden, und so dient die Sprachfigur vom „Angriff auf unsere Werte“ vor allem als ein Ablenkungsversuch, der darüber hinwegtäuschen soll, dass wir uns selbst nicht mehr an die gemeinten Werte halten.

„Das große Wir“ erfüllt damit den Zweck, politische und ökonomische Interessen der Machtbesitzenden und Herrschenden so zu deklarieren, als wären sie aller Vernunft nach im Sinne der gesamten Gesellschaft.

Wochen 20 & 21(Mai)

Die Wochenchronik registriert die Medienprodukte, mit denen die MICHMASCHINE unablässig gefüttert wird.

  • Wild (Kino) Film von Nicolette Krebitz
  • Bernard Maris: Michel Houllebecq, Ökonom (Buch)
  • Ewige Jugend (DVD) Film von Paolo Sorrentino
  • Die Überlebenden des Zauberbergs lassen grüßen (online/faz.net) Filmkritik von Andreas Kilb zu „Ewige Jugend“ von Paolo Sorrentino
  • Ich bin von jeder Ankunft weit entfernt (online/faz.net) Interview von Julia Encke mit Judith Hermann
  • Populismus. Die Geburtsstunde der Alternativlosigkeit (online/freitag.de) Blog-Beitrag von Sven Kerkof
  • Alexandra Kleemanns Roman „A wie B und C“: Essgestört und aufs Fernsehen fixiert (online/süddeutsche.de) Rezension von Meredith Haaf
  • Xavier Naidoo: Einer wie Jesus – verhetzt, weil er für den Frieden ist (online/Übermedien) Artikel von Stefan Niggemeier
  • Fest&Flauschig: The Big Empty (Streaming-Dienst/spotify) Podcast von Olli Schulz und Jan Böhmermann

 

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